home

http://www.rootcauses.de/publ/baraint2.htm

Afghanistan: Keine Alternative zum Bundeswehr Engagement?
Interview mit Dr. Matin Baraki - überarbeitete Langfassung

Am 14.11.03 hat der Bundestag - bereits zum 2. Mal in Folge - dem Antrag der SPD-Grünen-Regierung auf Verlängerung des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan zugestimmt, und zwar mit einer überwältigenden Mehrheit von 540 Stimmen. Unter den 41 Gegenstimmen (bei 5 Enthaltungen) waren lediglich zwei pazifistisch motiviert (die beiden PDS-Abgeordneten).
Den Vorgaben dieser faktischen Großen Koalition folgend hat sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt, die trotz großer Mehrheit gegen den Irakkrieg inzwischen in Afghanistan offenbar keine Alternative mehr zur militärischen Option sieht.
Vielmehr scheint die NGO-Gemeinde selbst von der allgemeinen Bewusstseinsdrift zur "Logik der Gewalt" erfasst zu sein: Bereits am 17.06.2003 hatten angesichts der unverändert katastrophalen Sicherheits- und Menschenrechtslage 79 internationale NGO´s ein "robustes NATO-Mandat" für Afghanistans gefordert - darunter so renommierte wie Oxfam, und selbst Ärzte- und Friedensorganisationen wie Physicians for Human Rights und Pax Christi International. Die NATO als größte und effektivste Friedensorganisation, wie bereits im Kalten Krieg propagiert?
Daran glauben wir 20 Jahre später immer noch nicht. Mit dem Slogan "Eine friedliche Alternative ist möglich" schlagen wir stattdessen ein Projekt zur Beendigung des Bundeswehrengagements vor, an dessen Anfang wir ein paar Informationen aus der Sicht eines profunden Afghanistan-Kenners stellen möchten. Über die Situation in seiner Heimat, sprachen wir mit Dr. Matin Baraki, ausgewiesener Afghanistan-Experte und Lehrbeauftragter für Internationale Politik an mehreren deutschen Universitäten, u.a. in Marburg.

Frage: Herr Dr. Baraki, wie stellt sich die aktuelle Situation in Afghanistan dar?

Dr. Baraki: In Afghanistan ist es längst nicht friedlich. Vor allem, als der Krieg gegen den Irak begonnen hatte, haben die ehemaligen Mojahedingruppen, wie zum Beispiel die von Hekmatjar, dem Führer einer der großen Mojahedingruppen, Al Qaidah und die Taliban, eine Koalition gebildet. Sie hatten es schon vorher versucht, aber erst in Folge des Irak Krieges ist es tatsächlich dazu gekommen.
Als ich im letzten Frühjahr in Afghanistan und Pakistan war, wurden in den afghanischen und pakistanischen Moscheen Flugblätter verteilt, in denen zum Kampf, zum Djihad gegen die USA und die anderen Besatzungsmächte aufgerufen wurde. Außerdem gibt es Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Warlords in weiten Teilen Afghanistans, auch in angeblich befriedeten Gebieten, wie beispielsweise im Norden und Westen Afghanistans.
Der Osten und Süden Afghanistans ist inzwischen weitgehend unter der Kontrolle der Taliban, Al Qaidah und Hekmatjars, so dass kaum jemand es wagt, dort hinzugehen. Auch die USA haben dort keine Militärbasen sondern operieren punktuell mit ihren Militäreinheiten. Afghanistan ist also längst nicht friedlich. Die neuesten militärischen Auseinandersetzungen Ende März 2004 zwischen den Milizionären des Warlords von Herat, Hauptmann Mohammad Esmael (genannt Esmael Khan) und der neugegründeten Nationalarmee unter General Mohammad Saher Nayebsdah, wobei der älteste Sohn von Esmael Khan, Mirweis Sediq, Minister in der Kabuler Administration für zivile Luftfahrt und Tourismus, sowie weitere 60 bis 100 Menschen umkamen, bestätigt exemplarisch diese Feststellung.

Frage: Wer Ihren kurz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 publizierten Artikel "Die Talibanisierung Afghanistans" liest, gewinnt den Eindruck, die Lage in Afghanistan wird durch das Vorhandensein unterschiedlicher Volksgruppen zwar nicht vereinfacht, entscheidend für die Destabilisierung Afghanistans waren vor allem äußere Faktoren, trifft das zu?

Dr. Baraki: Ja, das trifft genau den Kern des Problems. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, aber diese Völker haben jahrhundertelang friedlich miteinander gelebt. Als die Briten Afghanistan im 19. Jahrhundert zwei mal überfallen und besetzt haben, haben alle afghanischen Völker gemeinsam für die Freiheit ihres Landes gekämpft, ohne irgendwelche nationalen oder ethnischen Differenzen. Die ethnische Frage stand überhaupt nicht im Vordergrund sondern es ging um Afghanistan. Im 20. Jahrhundert haben die Briten Afghanistan noch einmal überfallen und wieder hat die ganze afghanische Bevölkerung ohne Unter-schied der Ethnien oder religiösen Gruppen zusammen für ihre Freiheit gekämpft.
Erst als 1978 in Afghanistan versucht wurde, eine Revolution einzuleiten, haben die Nachbarn Afghanistans und die Großmächte ihren Einfluss geltend gemacht und die innerafghanische Situation für ihre eigenen Interessen instrumentalisiert. Der Afghanistan-Konflikt ist in eine neue Phase getreten, als die Westmächte, vor allem die USA, massiv die Gegner der afghanischen Regierung unterstützt haben, was dann ja schließlich die sowjetische Intervention provoziert hat. Der Afghanistan-Konflikt ist also letztendlich ein Produkt der Politik die die Großmächte in und um Afghanistan betrieben haben.

Frage: Also haben die äußeren Faktoren einen entscheidenderen Einfluss als diejenigen innerhalb Afghanistan?

Dr. Baraki: Genau. Wenn es keine Einmischung von außen, also diese äußeren Faktoren nicht gegeben hätte, hätten die Afghanen ihre Probleme durchaus selbst lösen können. In Afghanistan gibt es die Tradition der Dschirga, von örtlichen Versammlungen oder Stammesversammlungen, sowie der Loja Dschirga, der großen nationalen Versammlung oder Rat. Die Menschen in Afghanistan haben ihre Probleme immer im Rahmen solcher Versammlungen gelöst. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn es keine Einmischung von außen gegeben hätte, die Afghanen früher oder später dazu in der Lage gewesen wären, ihre Probleme selbst zu lösen. Aber die Probleme bzw. die Konflikte wurden von außen geschürt, weil die Nachbarn Afghanistans und auch die Großmächte, Afghanistan für ihre Interessen instrumentalisiert haben.

Frage: Warum hat es diese Einmischung gegeben, warum traf es immer wieder Afghanistan?

Dr. Baraki: Afghanistan war stets Opfer seiner geostrategischen Lage. Im 19. Jahrhundert ein umstrittenes Gebiet im "Great Game" zwischen Großbritannien, mit Britisch-Indien, und dem zaristischen Russland. Diese beiden Länder haben immer versucht Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen, mit einem Unterschied: Die Russen sind zwar immer allgemein als die Bösen verschrieen, aber sie haben nie das afghanische Territorium angegriffen oder besetzt. Sie haben nie die Grenze überschritten. Aber die Briten haben Afghanistan zweimal komplett besetzt, sie wollten Afghanistan kolonialisieren.
Um noch mal auf Ihre Frage zurückzukommen: Afghanistan war also stets Opfer seiner geostrategischen Lage und an seiner Bedeutung hat sich bis heute nichts geändert. Stellen Sie sich nur einmal die Karte Afghanistans vor. Rings um Afghanistan: Iran, eines der wichtigsten Länder in der Region, ein Öl exportierendes Land, Mittelasien, der Kaukasus, der indische Subkontinent und wir sind auch gar nicht weit entfernt vom Irak oder dem Nahen Osten, wo sich die meisten Ölquellen befinden. Hier wird noch ein Mal die geostrategische Bedeutung Afghanistans offensichtlich.

Frage: Es entsteht der Eindruck, dass westliches Militärengagement bislang eher Teil des Problems als Teil einer Lösung war. Aber sollte nicht doch, allein um die vielen ausländischen Hilfsorganisationen zu schützen, wenigstens vorübergehend jemand mit "eiserner Faust" für Ordnung sorgen?

Dr. Baraki: Genau so wie in der ersten Phase des Afghanistan-Konfliktes die auswärtigen Faktoren den Konflikt verschärft haben, ist es heute auch. Wir müssen ein Stück zurückblicken zur Petersberger Konferenz. Was ist auf dem Petersberg eigentlich passiert?
Noch während des Krieges gegen Afghanistan haben die USA unter der formalen Schirmherrschaft der UNO eine Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn einberufen, auf dieser Konferenz waren Monarchisten und drei Modjahedingruppen eingeladen. Also wurde, unter der formalen Schirmherrschaft der UNO, Afghanistan schon auf dem Petersberg, wenn Sie so wollen "warlordisiert". Diese "Warlordisierung" wurde auf dem Petersberg sogar vertraglich festgeschrieben.
Andere Kräfte, zum Beispiel die der Zivilgesellschaft, wurden überhaupt nicht beteiligt, nicht einmal die säkularen Kräfte. Die Monarchisten wurden schließlich auf dem Petersberg marginalisiert, sie haben keinen großen Einfluss gehabt.
Mein Vorschlag für den Petersberg war, und das war auch die Position der Bundesregierung und der EU, dass man dem afghanischen Ex-Monarchen Saher Schah die Möglichkeit geben sollte in Afghanistan eine gewisse Rolle zu spielen. Das wollten die USA aber nicht. Damit haben sie bereits die Grundlage falsch gelegt. Sie haben ihre Position und ihre Interessen durchgesetzt und eine Koalition mit verschiedenen afghanischen Kriegsparteien geschlossen. Bei uns sagt man, wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, ist der ganze Fluss schmutzig. Man hat also von Anfang an statt nach einer friedlichen nach einer militärischen Konfliktlösung gesucht, und das war, wie fast immer, der falsche Weg.
Die Folge ist, dass wie man bei Ihnen sagt, das Kind jetzt in den Brunnen gefallen ist. Und von außen gesehen ist die Meinung, es gäbe keine Alternative zur militärischen Lösung, um die internationalen Hilfsorganisationen und auch die Afghanen militärisch zu schützen, verständlich. Meiner Meinung nach führt dieser Weg in die Sackgasse und das Problem wird dadurch nicht gelöst.
So eine Auffassung wird von den ausländischen Mächten, die in Afghanistan involviert sind propagiert, um eine Legitimation für eine Militärpräsenz in Afghanistan zu schaffen. Hochrangige Militärs der USA und auch Politiker, wie der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagen: Wir werden in Afghanistan auf Dauer bleiben. Das heißt, das Land soll vor allem für die USA, aber jetzt auch für die NATO, denn die hat seit kurzem das Oberkommando, als eine Art Militärbasis genutzt werden. Ein Protektorat ist Afghanistan schon jetzt.

Frage: Also gibt es keinen nennenswerten Unterschied, ob die Militäraktion unter der Hoheit er USA oder der NATO stattfindet?

Dr. Baraki: Das unterscheidet sich überhaupt nicht. Die USA haben immer die Meinung vertreten und das ist auch die Strategie der USA im Bezug auf Afghanistan und die Region, dass sie eine militärische Lösung anstreben. Sie selbst führen die militärischen Aktionen durch, und die anderen Verbündeten sollen nachher die Scherben zusammenkehren. Das ist die gewollte Arbeitsteilung seitens der USA.
Aber die NATO-Verbündeten sagen: Nein, wir wollen von Anfang an beteiligt sein. Wenn wir beteiligt werden, werden wir mitmachen, wenn nicht, machen wir auch nicht mit. In Afghanistan machen sie mit. Wir sehen jetzt im Irak, dass die Verbündeten sagen: Nein, hier machen wir nicht mit, wir werden dann mitmachen, wenn wir auch an dem Kuchen, den es zu verteilen gibt, gleichberechtigt beteiligt werden.
Bis vor kurzem war Schröder absolut gegen ein deutsches militärisches Engagement in Irak. Als dann Baker, der ehemalige Außenminister der USA in Berlin war und das Angebot unterbreitete, dass bundesdeutsche Firmen bei den Aufträgen in Irak berücksichtigt werden, (wir wissen inzwischen, dass die Firma Siemens mittlerweile Aufträge bekommen hat), schwenkte Schröder plötzlich um und sagte: Ja, vielleicht können wir uns zunächst mit einem Lazarett und humanitärer Hilfe beteiligen.
Aber das ist genau der Weg den wir von den militärischen Engagement der Bundesrepublik der vergangenen Jahre kennen. Immer werden am Anfang Lazarette irgendwo hingeschickt oder andere Hilfsangebote gemacht. Und später engagiert sich die Bundeswehr militärisch. Ich glaube, das ist ein Türöffner für ein weiteres Militärengagement der Bundesrepublik, auch im Irak. Wenn Aufträge an deutsche Firmen gehen, wird sich die Bundesrepublik sehr wahrscheinlich auch militärisch engagieren.

Frage: Aber könnte nicht die Bundeswehr für die humanitären Hilfsorganisationen eine Art Schutzfunktion erfüllen?

Dr. Baraki: Genau das ist der eigentliche Haken bei dieser Sache. Als die Bundesrepublik oder genauer die Bundeswehr zunächst nach Westafghanistan in das Reich von Esmael Khan gehen und sich dort engagieren wollte, hat dieser gesagt: Nein, ihr seid hier unerwünscht. Von vornherein hat er es kategorisch abgelehnt, dass sich die Bundeswehr in Herat, seinem Einflussbereich engagiert.
Danach wurden andere Wege und Ziele gesucht und gefunden, nämlich dass die Bundeswehr nach Nordafghanistan, nach Kundus gehen soll, vorgeblich um die dort tätigen Hilfsorganisationen zu schützen. Und ausnahmslos alle Hilfsorganisationen, die dort tätig sind, haben gesagt: Wir wollen von der Bundeswehr nicht geschützt werden, hier ist es friedlich und wenn die Bundeswehr hierher kommt, wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen unserer Arbeit und der Präsenz der Bundeswehr und damit werden wir zur Zielscheibe von Angriffen, sei es von den Taliban oder den Modjahedin. Also die Präsenz der Bundeswehr war seitens der Hilfsorganisationen unerwünscht. In den hiesigen Medien wurde allerdings meistens die Position der Regierung verbreitet.
Meine These war, dass die Bundeswehr und später dann die NATO hiermit den Versuch unternehmen, Afghanistan, genauer die Gebiete der Warlords, zunächst militärisch zu unterwandern, um sie später leichter vollständig zu besetzen. Das ist das Ziel. Seit ich diese These erstmals aufgestellt habe, ist diese Vorgehensweise für alle offensichtlich geworden. Meine These hat sich also tatsächlich bewahrheitet und die Strategie wird Schritt für Schritt weiter umgesetzt.

Frage: Aber es gibt ja einen Aufruf von 79 NGO´s, die NATO mit einem robusten Mandat auszustatten um humanitäre Hilfe zu ermöglichen...

Dr. Baraki: Sie wissen, dass im Krieg keine Humanität möglich ist. Da kann man nur Opfer bergen, aber keinen Aufbau leisten. Die Aufgabe muss doch sein, Bedingungen zu schaffen für einen Wiederaufbau. Wenn die NATO mit einem robusten Mandat ausgestattet wird, dann bedeutet das Krieg. Das bedeutet wieder Bürgerkrieg, ein Krieg von Warlords wie Hekmatjar sowie seinen Verbündeten Al Qaidah und Taliban gegen die NATO. Das ist eigentlich der falscheste Weg, den man sich überhaupt vorstellen kann.

Frage: Gibt es denn in der jetzigen Situation eine andere Möglichkeit? Also gäbe es die Möglichkeit, einer Verlängerung des Bundeswehr-Mandats nicht zustimmen zu müssen?

Dr. Baraki: Ja, indem man sagt, das man nicht den kriegerischen Weg gehen will. Wir wollen einen friedlichen Weg und eine friedliche Lösung.
Ich sagte vorhin, dass das Kind schon auf dem Petersberg in den Brunnen gefallen ist. Für Petersberg habe ich einen alternativen Vorschlag gemacht, davon hat man aber nichts wissen wollen. Mein Vorschlag war, dass Afghanistan, das sowohl Mitglied der Blockfreien Staaten als auch der Konferenz der islamischen Staaten ist, militärische Hilfe von diesen verbündeten Staaten erhält. Nicht die NATO oder die Bundeswehr, sondern die blockfreien Staaten und die Mitglieder der Konferenz der islamischen Staaten sollten Militär nach Afghanistan schicken, um für eine begrenzte Zeit die Helfer oder auch die Politiker zu schützen.
Außerdem hätte man mit den Warlords keine gemeinsame Sache machen dürfen, statt dessen Bedingungen für den Aufbau einer Zivilgesellschaft schaffen müssen, von mir aus sogar mit den ehemaligen Monarchisten und ehemaligen Technokraten, die zumindest säkular orientiert sind. Diese Kräfte hätte man auf dem Petersberg eigentlich unterstützen und zur Macht verhelfen sollen. Und sie dann militärisch durch Truppen der Blockfreien und der Konferenz Islamischer Staaten schützen lassen sollen. Diese Militäreinheiten hätten bei der afghanischen Bevölkerung mehr Akzeptanz gefunden als fremde Mächte, wie NATO oder die USA.
Den USA ging es ja sowieso nicht um Afghanistan, sondern darum das Land als Militärbasis zu nutzen für weitere Aktionen in dieser Region. Wenn sie so wollen ist Afghanistan ein unsinkbarer Flugzeugträger für die USA und nichts anderes.

Frage: Wenn Sie sagen, man befindet sich in einer Sackgasse, gibt es dann noch die Option der nicht-militärischen Lösung des Problems? Wie könnten Forderungen der Friedensbewegungen aussehen im Bezug auf Afghanistan?

Dr. Baraki: Man muss vielleicht wieder einen Schritt zurückgehen. Die Militäreinheiten der westlichen Allianz, der USA, sollten aus Afghanistan abgezogen werden. Wenn das geschähe, wäre wohl die erste Reaktion der Extremisten von Al Qaidah oder der Taliban und auch der Islamisten von Hekmatjar, dass sie ihre Auseinandersetzungen oder ihre terroristische Aktionen und ihre Zerstörungen (sie zerstören ja auch Schulen und Infrastruktur) stoppen.
Zweitens müsste man versuchen, eine Loja Dschirga ohne US-amerikanische Bevormundung abzuhalten. Statt dessen vielleicht mit der Unterstützung der Konferenz der islamischen Staaten, der Blockfreien, der UNO oder der OSZE, Bedingungen schaffen für eine demokratisch legitimierte Loja Dschirga. Damit also nicht Warlords durch Gewalt oder mit Stimmenkauf dorthin kommen, sondern die Menschen ihre Vertreter tatsächlich frei wählen können. Diese Wahlen wären von den genannten Institutionen zu kontrollieren.
Auf einer solchen, demokratisch zustande gekommenen Loja Dschirga, wäre dann zu beschließen, welchen Weg das afghanische Volk einschlagen will. Und ich bin davon überzeugt, das Ergebnis würde zu dem, was auf dem Petersberg und in der Folge auf den beiden Loja Dschirgas beschlossen worden ist, um 180 Grad anders ausfallen.
Das wäre meiner Meinung nach der einzige Weg, der zu dauerhaftem und nachhaltigem Frieden in Afghanistan führen kann.

Frage: Die Kernforderung wäre damit also der Abzug des US - oder NATO Militärs?

Dr. Baraki: Das ist in der Tat die Hauptforderung des afghanischen Volkes, welches vor allem jede militärische Lösung ablehnt. Ich war letztes Jahr in Afghanistan, die Menschen haben buchstäblich die Nase voll vom Krieg, sie wollen keinen Krieg mehr.
Die Bevölkerung will keinen Krieg, Krieg wollen die Warlords, weil ihre Interessen nur im Krieg durchsetzbar sind. Sie sind ja zum größten Teil selbst Heroinbarone und das können sie nur unter Ausnahmebedingungen bleiben, solange keiner in der Lage ist, sie zu kontrollieren bzw. sie zu entmachten. Da sie bis zu den Zähnen bewaffnet sind, werden sie sich gegen jeden Versuch einer Entmachtung zu verteidigen wissen. Mit dieser Menge an Waffen können sie ihre Interessen vertreten, ihre Geschäfte machen und auf die Bevölkerung Druck ausüben. Genauso wie auf die Bauern, die gezwungen werden Mohn anzubauen. Also, in einem Krieg oder in Ausnahmesituationen können wir für keinen Teil des Landes friedliche Lösungen finden, das ist nicht möglich.

Frage: Der Konflikt zwischen den verschiedenen Parteien in Afghanistan wird hier vor allem als ethnischer Konflikt dargestellt. Wie sah das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor den Taliban aus? Gab es ethnische Spannungen oder waren die unterschiedlichen Volksgruppen kein Problem für das Zusammenleben?

Dr. Baraki: Ich habe in dem Beitrag "Islamismus und Großmachtpolitik in Afghanistan" genau aufgezeigt, wann der Afghanistan-Konflikt ethnisiert und wann er "islamisiert" worden ist: In einem so unterentwickelten Land wie Afghanistan ist die Religion das beste Mittel, das beste Instrument, die Bevölkerung zu mobilisieren. 1978 haben linksorientierte Kräfte in Afghanistan Reformen eingeleitet. Man bezeichnete sie als Kommunisten, aber ich kenne keinen Menschen in dieser Organisation, der wirklich Kommunist gewesen wäre. Man hat diese Menschen als Kommunisten abgestempelt, um die Massen besser gegen sie mobilisieren zu können. Damals hat man ihnen eingeredet: Jetzt sind die Kommunisten an der Macht, unsere Religion ist in Gefahr, wir müssen unsere Religion verteidigen. Das war die Geburtsstunde des islamischen Fundamentalismus, in dieser Intensität, wie wir ihn heute kennen.
Sowohl regionale als auch internationale Gegner der afghanischen Regierung haben dabei nicht nur afghanische Islamisten und Teile der afghanischen Bevölkerung mobilisiert, ausgebildet und ausgerüstet, in insgesamt 85 Ausbildungslagern in Pakistan, sondern auch Islamisten aus der ganzen Welt. In Afghanistan hat man den islamischen Fundamentalismus groß gemacht. Diese Islamisten haben bis zum Jahr 1989 gegen die afghanische Regierung und gegen die sowjetische Militärpräsenz gekämpft. Nach dem Abzug des sowjetischen Kontingents wurde der Kampf gegen die auf sich allein gestellte afghanische Regierung fortgesetzt.
1992 schließlich hat die afghanische Führung kapituliert und die Macht an die Modjahedin übertragen. Es handelte sich in der Tat um eine Machtübertragung. In der hiesigen Presse war zwar zu lesen, die Modjahedin seien siegreich in Kabul einmarschiert, aber in Wirklichkeit handelte es sich um eine Vereinbarung zwischen der damaligen afghanischen Regierung und den Islamisten. Kabul wurde kampflos den sogenannten "gemäßigten Islamisten" übergeben. Sebgatullah Modjadei, ein Opportunist par excellence, wurde der erste Präsiden des "Islamischen Staates Afghanistan".
Aber die Islamisten haben nicht gemeinsam in Afghanistan regiert, sondern den Krieg gegeneinander weiter fortgesetzt. Die Bevölkerung konnte nicht verstehen, warum sie das taten. Die Kommunisten aus der Sowjetunion waren abgezogen, die so bezeichneten afghanischen Kommunisten hatten kapituliert. Warum also kämpfen die Moslembrüder, die Modjahedin jetzt gegeneinander?
Das war die Geburtsstunde der Ethnisierung des Afghanistankonfliktes. Um der Bevölkerung die Fortführung des Krieges verständlich zu machen, hat man eine neue Karte ins Spiel gebracht: Die Ethnizität. Modjahedingruppen, die vorher multiethnisch waren, haben sich dann ethnisch "gesäubert". Das wurde durchgeführt, um den Krieg in Afghanistan für die jeweils eigenen, politischen, ökonomischen und ideologischen Ziele zu legitimieren und fortzusetzen. Das Auftauchen der Taliban war dann die logische Folge dieser Politik.

Frage: Wie stark ist ihrer Meinung nach die Festigung des islamischen Fundamentalismus in der Bevölkerung, vor allem nach den Taliban?

Dr. Baraki: Die islamischen Funda-mentalisten sind in der Bevölkerung sehr verhasst. Das ist die Erfahrung, die ich in den letzten drei oder vier Jahren in Afghanistan aber auch in Pakistan gemacht habe.
Ich war in Afghanistan und Pakistan, auch in Flüchtlingslagern, und habe dort mit vielen Menschen gesprochen. Sie hassen die islamischen Fundamentalisten, weil sie sie für die Zerstörung des Landes verantwortlich machen. Fundamentalisten haben überhaupt keinen Rückhalt in der Bevölkerung. In den paschtunischen Stammesgebieten mag das durchaus anders sein.
Aber die Politik, die jetzt betrieben wird, die angestrebte militärische Lösung des Afghanistan-Konfliktes, liefert die Menschen den Extremisten geradezu aus. Das ist das Problem, deswegen sage ich ja auch, das es keine militärische Lösung des Afghanistan-Konfliktes geben kann und wird. Dieser Weg führt in die Sackgasse, und wir müssen friedliche, alternative Lösungen finden.

Frage: Ist das in Afghanistan jetzt etablierte politische System, mit Karsai an der Spitze, teil einer stattfindenden Normalisierung und damit ein Weg zur Befriedung Afghanistans? Oder ist es eher ein Teil des Problems?

Dr. Baraki: Ganz sicher ist es Teil des Problems, dessen Grundstein auf dem Petersberg gelegt worden und in den Jahren 2002 und 2003 auf den Loja Dschirgas ausdrücklich zementiert wurde, indem Karsai als Chef dieser Administration in Kabul jedes Mal wieder installiert worden ist. Brahimi, der UN-Beauftragte für Afghanistan hatte den Versammlungsteilnehmern Flugblätter verteilen lassen, aus denen hervorgeht, dass die Parlamentswahlen in Afghanistan verschoben werden müssen. Ein Verstoß gegen die Vereinbarungen auf dem Petersberg. Die USA und Karsai wollten, dass im diesem Jahr zunächst Karsai gewählt wird, ganz nach ihren Vorstellungen. Damit sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden, damit Karsai von der Position der Stärke aus die Parlamentswahlen dominieren kann. Was die USA als Wahl bezeichnen, ist in Wirklichkeit Betrug. So haben sie bei der letzten Loja Dschirga 10 Millionen Dollar zum Kauf von Stimmen für Karsai ausgegeben. Und jetzt sollen doch beide Wahlen im Herbst durchgeführt werden. Weil die Gegner von Karsai damit nicht einverstanden gewesen sind.
Karsai und seine Entourage sind Teil des Problems, und mit Karsai wird es kein Lösung des Afghanistan-Problems geben. Das hängt mit den Interessen der USA in Afghanistan zusammen. Andere Lösungen lassen sie nicht zu. Sie selbst sind ein Faktor von Instabilität in und um Afghanistan.
Als der afghanische Ex-Monarch Saher Schah im Vorfeld der Loja Dschirga von Juni 2002 aus seinem römischen Exil nach Kabul zurückkehren wollte, intervenierte US-Präsident George W. Bush persönlich beim italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, damit dieser Saher Schah daran hindert, rechtzeitig nach Kabul zu gehen. Es sollte ihm keine Gelegenheit gegeben werden, für sich Wahlkampf zu machen. Trotzdem hat es eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, vor allem bei den Paschtunen, für Saher Schah gegeben. Viele Afghanen wünschten sich ihn als Präsidenten. Aber Saher Schah wurde von Zalmay Khalilzad, einem gebürtigen Afghanen und Sonderbeauftragten des US-Präsidenten für Afghanistan, zwischenzeitlich zum US-Botschafter in Kabul ernannt, unter massiven Druck gesetzt: "Wenn Du kandidierst, gibt es keine militärische und finanzielle Unterstützung von unserer Seite". Und Khalilzad, nicht etwa Saher Schah selbst, gab in der US-Botschaft bekannt, dass Saher Schah zugunsten von Karsai auf seine Kandidatur verzichtet. Das bedeutet, die USA setzen nur ihre eigenen Interessen in Afghanistan durch.

Frage: Könnte also der König eine Funktion als Integrationsfigur für ganz Afghanistan erfüllen, der Nation ein gemeinsames vereinendes Symbol sein?

Dr. Baraki: Ich bin davon überzeugt. Die Menschen in Afghanistan träumen von der Zeit seiner Herrschaft. Sie hatten zwar damals nicht viel zu essen, nicht viel Arbeit und wenig Bildung, aber es war jedenfalls besser als heute. Auch wenn es damals nicht so war, wie man es sich wünschen würde, so herrschte doch immerhin Frieden. Die Menschen in Afghanistan und in Pakistan, mit denen ich im letzten Jahr gesprochen habe, redeten immer nur von Frieden, Frieden und nochmals Frieden.
Deswegen wollen sie Saher Schah, weil sie mit ihm friedliche Zeiten verbinden. Er könnte wieder Frieden nach Afghanistan bringen, er könnte die verschiedenen Fraktionen und Stämme wieder einen und so als Integrationsfigur eine wichtige Rolle spielen.
Außerdem bin ich davon überzeugt, dass sich um Saher Schah eine Menge säkular orientierter Kräfte und Technokraten sammeln würden, die wissen, wie man regiert, wie man eine Verwaltung leitet. Und auch sie könnten ja eine positive Rolle spielen. Daraufhin würden auch viele Exil-Afghanen, unter anderem auch ich, nach Afghanistan zurückkehren, um beim Wiederaufbau des Landes ihren Beitrag zu leisten.
Im Moment werde ich persönlich sogar im Ausland bedroht. Ich war im Jahre 2003 in Tadschikistan, wo ich nach einem Vortrag über eine politische Lösung des Afghanistan-Konfliktes, nur knapp einer Entführung entgangen bin. Ich konnte mich erst in letzter Sekunde retten. Kritische Intellektuelle sind also sogar im Ausland bedroht. In Afghanistan haben wir momentan keine Chance zu arbeiten und zu leben. Unter den jetzigen Bedingungen, einer Regierung von Warlords, Modjahedin-Kommandanten, Heroinbaronen und amerikanischen Afghanen, gibt es keinen Raum für uns. Da sind wir unerwünscht.

Frage: Was ist von der neuen Verfassung für Afghanistan zu halten, ist dies eine wirklich afghanische Verfassung?

Dr. Baraki: Diese Verfassung bedeutet Unheil, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wurde Afghanistan durch diese Verfassung ein islamischer Staat, eine Entscheidung an der das afghanische Volk lange zu tragen haben wird. Denn die Islamisten werden interpretieren, was islamisch ist und was nicht. Hier wird wiederum die Religion zum politischen Instrument, wie in den vergangenen Jahren durch die Modjahedin und Taleban. Zweitens ist die Scharia, das islamische Recht, zwar in der Verfassung nicht explizit verankert, aber es gibt den Paragraphen drei der Verfassung, der besagt, dass kein Gesetz gegen die Regeln des Islam verstoßen darf. Das bedeutet, die Scharia ist über Umwege in die Verfassung aufgenommen worden. Diese Verfassung wurde von großen Teilen der Delegierten abgelehnt. Die Mehrheit wollte eine Republik Afghanistan, jedoch keine islamische, sowie kein Präsidialsystem nach amerikanischem Muster, sondern eine parlamentarische Demokratie mit einem Ministerpräsidenten als Regierungschef, der dem Parlament gegenüber verantwortlich ist.
Die USA, namentlich Mr. Khalilzad, haben aus der Loja Dschirga nichts anderes als eine Showveranstaltung gemacht. Die wirklichen Entscheidungen wurden hinter verschlossenen Türen in Anwesenheit von Khalilzad, von Brahimi und dem EU Beauftragten Francesc Vendrell geführt. Sie haben dort entschieden, was in die Verfassung hineinkommt und was nicht. Diese Verfassung ist keineswegs eine afghanische, sondern eine nach US-amerikanischen Vorstellungen aufoktroyierte.

Frage: Besteht dann überhaupt die Chance einer verfassungsmäßigen Ordnung unter dieser Verfassung?

Dr. Baraki: Das glaube ich nicht. Schon auf der Loja Dschirga hat Mohammad Rauf Mehdi, der afghanische Flüchtlinge in Iran vertrat, Unterschriften gesammelt. Ihm fehlten fünf Stimmen, um seinen Antrag auf die Tagesordnung setzen zu können. Er war gegen diese Verfassung, weil er verhindern wollte, dass Afghanistan eine islamische Republik wird.
Er wurde deshalb von den Islamisten bedroht und musste von der UNO geschützt werden. Selbst wenn er genug Unterschriften bekommen hätte, wäre niemand willens gewesen, einen solchen Antrag angesichts von Warlords und Islamisten öffentlich zu begründen. Mehdi wurde von dem Vorsitzenden der Versammlung, Sebgatullah Modjadedi als Kommunist und Ketzer bezeichnet. Er wurde anschließend von den beiden Ultraislamisten Sayaf und Rabani zu einem "Gespräch" zitiert. Vendrell sah sich zu einer Intervention gezwungen und wies darauf hin, dass er ein solches Verhalten eher von den Taliban erwartet hätte und nicht von dieser Versammlung.
Auch jetzt, nach der Loja Dschirga werden weiter Unterschriften gesammelt, die sich sowohl gegen diese Verfassung als auch gegen dieses System richten. Ein bekannter Oppositioneller gab bekannt: "Wenn wir an die Macht kommen, werden wir diese Präsidialdemokratie abschaffen". Wie sie sehen, die Akzeptanz der neuen Verfassung ist sehr gering.
Abgesehen davon ist in Afghanistan die geschriebene Verfassung das eine, aber die Umsetzung steht auf einem ganz anderen Blatt. Sobald die Warlords und Heroinbarone unter den Delegierten wieder in ihren Regionen sind, werden sie sich um die neue afghanische Verfassung, die sie sowieso nicht akzeptieren, nicht weiter scheren.

Frage: Als einer der Gründe für die militärische Intervention, wurde neben dem Krieg gegen den Terrorismus, immer wieder die Unterdrückung der afghanischen Frauen durch die Taliban genannt. Ist nach dem Krieg gegen die Taliban eine Veränderung in der Situation der afghanischen Frauen eingetreten, oder ist eine solche Entwicklung abzusehen?

Dr. Baraki: Wenn wir vergleichen zwischen der Zeit der Taliban und heute, ist ohne Zweifel eine relative, geringe Verbesserung auch für die Frauen sichtbar, die den Mädchen und Frauen aber noch längst kein normales Leben ermöglicht.
Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen. Als ich im Frühjahr 2003 in Kabul war, wurde auf offener Strasse, am hellen Tag, eine junge Frau von Polizisten entführt. Von Polizisten! Die Frau hat laut geschrieen, und die Menschen sind dadurch auf die Sache aufmerksam geworden. Durch das beherzte Eingreifen der Passanten konnte sie befreit werden.
Das heißt aber, dass Frauen sich auch unter den jetzigen Bedingungen in Afghanistan, vor den Augen der internationalen "Schutztruppen" nicht einmal sicher und frei auf der Straße bewegen können, von anderen Rechten, die wir als selbst-verständlich ansehen, mal ganz abgesehen. Es gibt zwar auch Mädchen und Frauen, die zur Schule oder zur Arbeit gehen, das dürfen sie aber nur, wenn ihre Väter bzw. Männer einverstanden sind, und wenn es überhaupt eine Mädchenschule gibt bzw. wenn sie überhaupt eine Arbeit bekommen, was besonders auf dem Land eher selten der Fall ist. So gehen z.B. über die Hälfte aller afghanischen Kinder immer noch nicht zur Schule, wobei 70% der Mädchen nach Angaben von UNICEF sogar von jeglichem Unterricht ausgeschlossen sind. Nur sehr wenige Frauen trauen sich auch heute noch ohne Schleier auf die Strasse. Bis zur Tür ihrer Arbeitsstelle tragen sie Schleier oder sogar die sackähnliche alles verhüllende "Burqua". Die Mutigeren, die sich doch trauen, keinen Schleier zu tragen, werden von Männern bespuckt, beschimpft, beleidigt oder Schlimmeres. Es gibt immer noch Vergewaltigungen, es gibt immer noch Entführungen von Frauen. Um die geschätzten 30.000 Straßenkinder und um die 55.000 Witwen allein in der Hauptstadt Kabul kümmern sich zumeist nur die Statistiker.
Auf der letzten Loja Dschirga ist die junge Delegierte Malalei Joia, eine Sozialarbeiterin aus einer westlichen Provinz Afghanistans, aufgetreten und hat sich getraut, in Anwesenheit von Warlords und Heroinbaronen festzustellen: "Hier unter diesem Zelt sitzen lauter Räuber, Drogenhändler, Verbrecher und Mörder. Sie haben das Land aus Machtgier und Geldgier zugrunde gerichtet. Sie gehören nicht in eine freie, erhabene Versammlung, sondern vor Gericht". Frau Joia wurde mit dem Tode gedroht und musste bis zur letzten Minute auf der Loja Dschirga von der UNO geschützt werden. Ob sie heil und gesund nach Hause gekommen ist, wissen wir nicht.
Die Rechte der Frauen sind zwar in der Verfassung verankert, insofern als alle afghanischen Bürger gleichberechtigt sind, aber weibliche Delegierte und eine kleine Gruppe von Männern, die für die Rechte der Frauen eintreten, haben gefordert, dass die Formulierung "Frauen und Männer sind gleichberechtigt" in die Verfassung aufgenommen werden muss. Diese Forderung wurde durchgesetzt und der jetzt existierende Verfassungsartikel ist gut und schön. Aber die Realität in Afghanistan sieht ganz anders aus. Die Frauen werden in allen Angelegenheiten deswegen benachteiligt, weil Frauen aus der Sicht der Islamisten überall unerwünscht sind. Diese Islamisten sagen: "Wir wollen nicht, dass die Mädchen zur Schule gehen und die Frauen arbeiten". Die Schulen, die von ihnen angegriffen und zerstört werden, sind vorzugsweise Mädchenschulen.

Frage: Gibt es eine Möglichkeit in einer Gesellschaft wie der Afghanischen eine schnelle Verbesserung der Situation der Frauen zu erreichen?

Dr. Baraki: Genauso wie es keine schnelle Lösung des Afghanistan-Konfliktes gibt, wird es auch keine schnelle Verbesserung der Situation der afghanischen Frauen geben.
Da das Land und die gesamte Infrastruktur total zerstört sind, die politischen Rahmenbedingungen äußerst schlecht sind, und immer wieder versucht wird, eine militärische Lösung des Konfliktes zu erreichen, verschlechtert das natürlich die Bedingungen für einen friedlichen Aufbau und damit insbesondere für die Verbesserung der Situation der Frauen erheblich. Da muss man einen langen Atem haben. Eine wirkliche Befriedung des Landes würde schneller und nachhaltig zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen für die gesamte Bevölkerung in Afghanistan führen. Die NATO orientiert statt dessen auf die militärische Besetzung des gesamten Landes, wie ihr Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer unmissverständlich angekündigt hat.

Frage: Wo sind die Probleme beim Wiederaufbau des Landes? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Wiederaufbau? Und wie geht er voran?

Dr. Baraki: Von einem Wiederaufbau im eigentlichen Sinne kann man nicht sprechen. Aber die internationalen NGO´s stellen hier und da Schulen, Krankenhäuser wieder her, oder versuchen die Bewässerungssysteme in Stand zu setzen. Wiederaufbau sollte eigentlich ein bisschen umfassender sein als nur Reparaturmaßnahmen.

Frage: Wie ist die humanitäre Situation in Afghanistan?

Dr. Baraki: Die humanitäre Situation befindet sich am Rande der Katastrophe. Die Flüchtlinge, die aus Iran oder Pakistan zurückgekommen sind, haben keine Unterkunft und keine Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie stehen vor dem Nichts. In verschiedenen Teilen des Landes wurden neue Flüchtlingslager errichtet, wo sie untergebracht sind. Weil es dort aber nicht sicher ist, sind viele Flüchtlinge schließlich nach Kabul gekommen. Am Rande von Kabul gibt es neuerdings große Flüchtlingslager. Der Westen der Stadt ist ja komplett zerstört und die Menschen leben in Ruinen. In Kabul war es, seit ich mich erinnern kann, so, dass Menschen die von außerhalb in die Stadt kamen, in den Bergen Lehmhütten für sich gebaut haben (Kabul liegt in einem Tal), um ein Dach über dem Kopf zu haben.
Das haben sie auch jetzt wieder getan. Der Polizeichef von Kabul, Herr Salangi, aus der Pandjscheri-Fraktion hat den Befehl gegeben, diese Hütten zu zerstören. Dabei sind viele Menschen unter den Trümmern begraben worden. Darüber ist in der Presse auch berichtet worden. Die UNO hat gegen dieses Vorgehen der Kabuler Polizei protestiert. Wenn aber die Flüchtlinge Geld haben und den Polizisten Bakschisch geben können, dann bleiben sie unbehelligt.
Die humanitäre Lage ist also katastrophal. Die Menschenrechte werden permanent verletzt. Afghanische Politiker verweisen gerne darauf, dass in Kabul viele Zeitungen veröffentlicht werden, aber es gibt diese freie Presse nicht. Sie gehört fast ausschließlich den Warlords, den Mojahedin-Kommandanten oder islamistischen Gruppierungen. Zwar gab es ein oder zwei Gruppen, die tatsächlich versucht haben, unabhängige Zeitungen herauszugeben, aber sobald sie irgendeine Kritik an der Regierung oder an Mitgliedern der Regierung üben, werden ihre Redaktoren sofort verhaftet und die Zeitung verboten. Redakteure der Zeitschrift "Lemaar" sind sogar zum Tode verurteilt worden, weil sie die Modjahedin-Kommandanten und Warlords kritisiert hatten. Sie wurden als Ketzer und Kommunisten bezeichnet. Sie haben sich zunächst versteckt und in der Illegalität gelebt und sind später nach Kanada entkommen. Von einer freien Presse kann also gar keine Rede sein.
Inzwischen gibt es wieder Religionswächter in Kabul, die uns aus Talibanzeiten wohl bekannt sind, die durch die Strassen laufen und kontrollieren, ob die Frauen der Scharia entsprechend angezogen sind oder ob die Menschen zum Gebet in die Moschee gehen und gegebenenfalls mit ihren Peitschen nachhelfen.
Tanzen und Musik sind zum Beispiel in Westafghanistan, wo Esmael Khan herrscht, wieder verboten. Frauen und Männer dürfen bei Hochzeiten nicht zusammen feiern und so weiter.

Frage: Wie sieht es auf der wirtschaftlichen Seite aus? Gibt es nennenswerte Investitionen in Afghanistan, und wenn ja von wem? Und vor allem: Hat die Bevölkerung etwas davon?

Dr. Baraki: Eine Wirtschaft im eigentlichen Sinne existiert in Afghanistan überhaupt nicht. Der einzige Bereich, der gut funktioniert und floriert, ist der Handel. Afghanistan ist zu einem El Dorado für aus-ländische Waren geworden. Sie werden vor allem in Kabul an die Mitarbeiter der über 800 internationalen Organisationen und an afghanische Kriegsgewinnler verkauft. Wer in Kabul über reichlich Dollars, die eigentliche afghanische Währung, verfügt, kann sich alles kaufen. Diejenigen, die diesen Handel betreiben profitieren auch davon.
Daneben stellen nach wie vor der Anbau von Mohn und der Handel mit Heroin die lukrativsten Einnahmenquellen dar. Von diesen Bereichen abgesehen, existiert keine Wirtschaft in Afghanistan.
Ausländische Investoren gibt es kaum, obwohl es ein sehr attraktives Investitionsgesetz gibt, das der Wirtschaftsberater von Karsai, ein bundesdeutscher Wirtschaftswissenschaftler, mit konzipiert hat. Die ausländischen Unternehmen können 100% ihrer Profite, die sie im Land machen, in ihre Heimatländer transferieren, und für mehrere Jahre brauchen sie überhaupt keine Steuern zu bezahlen. Trotzdem halten sich internationale Investoren immer noch von Afghanistan fern. Fehlende Sicherheit sowie weiterer Rechtsgrundlagen, ein Mangel an qualifiziertem Personal, an adäquaten Verkehrsverbindungen und ausreichender Stromversorgung und last but not least die exorbitanten Bodenpreise in Kabul stehen einem Engagement entgegen. Im ersten Jahr der Karsei-Administration sind zwar über 5000 Geschäftslizenzen ausgestellt worden, davon aber nur 10% an ausländische Unternehmer. Aber selbst diese wenigen investieren nicht, nachdem sie sich einen Überblick über die realen Verhältnisse vor Ort verschafft haben.
Die minimalen Investitionen die es gibt, betreffen vor allem den Bereich der Konsumwirtschaft, der eben schon angesprochen wurde. Es handelt sich aber meist um sehr kleine Geschäfte, die für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes kaum von Bedeutung sind.

Frage: Was ist die Rolle der Bundesrepublik beim Weideraufbau Afghanistans? Gibt es Projekte, von denen sie sagen würden: das ist der richtige Weg, oder ist es eher marginal?

Dr. Baraki: Marginal ist es auf jeden Fall. Es reicht nicht aus, was die Bundesrepublik tut. Aber die Ansätze und die Richtung sind schon richtig. Die Bundesrepublik hat in drei Bereichen Entwicklungsprojekte: Frauenförderung, Erziehungswesen und Gesundheitswesen. Das sind drei Schwerpunkte, die eigentlich zu begrüßen sind. Das reicht mir aber nicht aus. Ich habe "10 Thesen für eine nachhaltige Entwicklungspolitik in Afghanistan" formuliert, die in der EPD veröffentlicht worden sind. Meiner Meinung nach sollte die Bundesrepublik vor allem die Frauenförderung in ihren Projekten noch weiter auszubauen. Zum Beispiel sollten die zahlreichen mittellosen Frauen und Witwen eine Berufsausbildung erhalten, damit sie sich und ihre Kinder ernähren können und sich nicht prostituieren müssen.
Ein weiteres Anliegen wäre die Anwerbung von noch in der Bundesrepublik lebenden bzw. schon nach Afghanistan zurückgekehrten Flüchtlingen, die in den von der BRD durchgeführten Projekten bevorzugt Beschäftigung finden sollten. Ich bin davon überzeugt, dass dann mehr Afghanen zurückgehen würden. Das läge sicherlich in beiderseitigem Interesse. Es gibt Afghanen, die hier viele Erfahrungen gesammelt haben, etwas gelernt haben, die deutsche Sprache können. Wenn sie in einem deutschen Projekt in Afghanistan tätig sein könnten, wäre das für beide Seiten von Vorteil.
Die Bundesrepublik hat aber noch einen anderen wichtigen Schwerpunkt gesetzt, den Aufbau, die Ausbildung und Ausrüstung der Polizei. Das hat eine lange Tradition. Angefangen hatte das schon vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und dauerte bis 1978, und findet jetzt seine nahtlose Fortsetzung.

Frage: Wie ist ihr persönlicher Ausblick auf die Zukunft Afghanistans?

Dr. Baraki: Es fällt mir nicht leicht das so zu sagen, aber ich bin ziemlich pessimistisch. Und das aus den Gründen, die wir in unserem Gespräch erörtert haben. Die Realität ist, dass in Afghanistan fremde Mächte das Sagen haben. Die Afghanen selbst dagegen haben faktisch nichts zu entscheiden. Und diese fremden Mächte, allen voran die USA, wollen ihre eigenen Interessen in Afghanistan durchsetzen. Um Afghanistan und um die Afghanen, für deren Belange sich der Westen vorgeblich jahrzehntelang eingesetzt hat, geht es in der Tat nicht! Und das macht mich ziemlich pessimistisch.

Herr Dr. Baraki, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

 

Das Interview führte Helge von Horn (AG Root Causes of Conflicts des AK "Süd-Nord")

 

Einige Ausgewählte Publikationen von Dr. Matin Baraki: