http://www.rootcauses.de/publ/baraint2.htm
Am 14.11.03 hat der Bundestag - bereits zum 2. Mal in Folge - dem Antrag der SPD-Grünen-Regierung auf
Verlängerung des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan zugestimmt, und zwar mit einer überwältigenden
Mehrheit von 540 Stimmen. Unter den 41 Gegenstimmen (bei 5 Enthaltungen) waren lediglich zwei pazifistisch
motiviert (die beiden PDS-Abgeordneten).
Den Vorgaben dieser faktischen Großen Koalition folgend hat sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt,
die trotz großer Mehrheit gegen den Irakkrieg inzwischen in Afghanistan offenbar keine Alternative mehr zur
militärischen Option sieht.
Vielmehr scheint die NGO-Gemeinde selbst von der allgemeinen Bewusstseinsdrift zur "Logik der Gewalt" erfasst
zu sein: Bereits am 17.06.2003 hatten angesichts der unverändert katastrophalen Sicherheits- und
Menschenrechtslage 79 internationale NGO´s ein "robustes NATO-Mandat" für Afghanistans gefordert - darunter so
renommierte wie Oxfam, und selbst Ärzte- und Friedensorganisationen wie Physicians for Human Rights und Pax
Christi International. Die NATO als größte und effektivste Friedensorganisation, wie bereits im Kalten Krieg
propagiert?
Daran glauben wir 20 Jahre später immer noch nicht. Mit dem Slogan "Eine friedliche Alternative ist möglich"
schlagen wir stattdessen ein Projekt zur Beendigung des Bundeswehrengagements vor, an dessen Anfang wir ein paar
Informationen aus der Sicht eines profunden Afghanistan-Kenners stellen möchten.
Über die Situation in seiner Heimat, sprachen wir mit Dr. Matin Baraki, ausgewiesener Afghanistan-Experte und
Lehrbeauftragter für Internationale Politik an mehreren deutschen Universitäten, u.a. in Marburg.
Frage: Herr Dr. Baraki, wie stellt sich die aktuelle Situation in Afghanistan dar?
Dr. Baraki: In Afghanistan ist es längst nicht friedlich. Vor allem, als der Krieg gegen den Irak begonnen hatte,
haben die ehemaligen Mojahedingruppen, wie zum Beispiel die von Hekmatjar, dem Führer einer der großen
Mojahedingruppen, Al Qaidah und die Taliban, eine Koalition gebildet. Sie hatten es schon vorher versucht, aber
erst in Folge des Irak Krieges ist es tatsächlich dazu gekommen.
Als ich im letzten Frühjahr in Afghanistan und Pakistan war, wurden in den afghanischen und pakistanischen Moscheen
Flugblätter verteilt, in denen zum Kampf, zum Djihad gegen die USA und die anderen Besatzungsmächte aufgerufen wurde.
Außerdem gibt es Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Warlords in weiten Teilen Afghanistans, auch in angeblich
befriedeten Gebieten, wie beispielsweise im Norden und Westen Afghanistans.
Der Osten und Süden Afghanistans ist inzwischen weitgehend unter der Kontrolle der Taliban, Al Qaidah und
Hekmatjars, so dass kaum jemand es wagt, dort hinzugehen. Auch die USA haben dort keine Militärbasen sondern
operieren punktuell mit ihren Militäreinheiten. Afghanistan ist also längst nicht friedlich. Die neuesten
militärischen Auseinandersetzungen Ende März 2004 zwischen den Milizionären des Warlords von Herat, Hauptmann
Mohammad Esmael (genannt Esmael Khan) und der neugegründeten Nationalarmee unter General Mohammad Saher Nayebsdah,
wobei der älteste Sohn von Esmael Khan, Mirweis Sediq, Minister in der Kabuler Administration für zivile Luftfahrt
und Tourismus, sowie weitere 60 bis 100 Menschen umkamen, bestätigt exemplarisch diese Feststellung.
Frage: Wer Ihren kurz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 publizierten Artikel "Die Talibanisierung Afghanistans" liest, gewinnt den Eindruck, die Lage in Afghanistan wird durch das Vorhandensein unterschiedlicher Volksgruppen zwar nicht vereinfacht, entscheidend für die Destabilisierung Afghanistans waren vor allem äußere Faktoren, trifft das zu?
Dr. Baraki: Ja, das trifft genau den Kern des Problems. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, aber diese Völker
haben jahrhundertelang friedlich miteinander gelebt. Als die Briten Afghanistan im 19. Jahrhundert zwei mal
überfallen und besetzt haben, haben alle afghanischen Völker gemeinsam für die Freiheit ihres Landes gekämpft,
ohne irgendwelche nationalen oder ethnischen Differenzen. Die ethnische Frage stand überhaupt nicht im Vordergrund
sondern es ging um Afghanistan. Im 20. Jahrhundert haben die Briten Afghanistan noch einmal überfallen und wieder
hat die ganze afghanische Bevölkerung ohne Unter-schied der Ethnien oder religiösen Gruppen zusammen für ihre
Freiheit gekämpft.
Erst als 1978 in Afghanistan versucht wurde, eine Revolution einzuleiten, haben die Nachbarn Afghanistans und die
Großmächte ihren Einfluss geltend gemacht und die innerafghanische Situation für ihre eigenen Interessen
instrumentalisiert. Der Afghanistan-Konflikt ist in eine neue Phase getreten, als die Westmächte, vor allem die
USA, massiv die Gegner der afghanischen Regierung unterstützt haben, was dann ja schließlich die sowjetische
Intervention provoziert hat. Der Afghanistan-Konflikt ist also letztendlich ein Produkt der Politik die die
Großmächte in und um Afghanistan betrieben haben.
Frage: Also haben die äußeren Faktoren einen entscheidenderen Einfluss als diejenigen innerhalb Afghanistan?
Dr. Baraki: Genau. Wenn es keine Einmischung von außen, also diese äußeren Faktoren nicht gegeben hätte, hätten die Afghanen ihre Probleme durchaus selbst lösen können. In Afghanistan gibt es die Tradition der Dschirga, von örtlichen Versammlungen oder Stammesversammlungen, sowie der Loja Dschirga, der großen nationalen Versammlung oder Rat. Die Menschen in Afghanistan haben ihre Probleme immer im Rahmen solcher Versammlungen gelöst. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn es keine Einmischung von außen gegeben hätte, die Afghanen früher oder später dazu in der Lage gewesen wären, ihre Probleme selbst zu lösen. Aber die Probleme bzw. die Konflikte wurden von außen geschürt, weil die Nachbarn Afghanistans und auch die Großmächte, Afghanistan für ihre Interessen instrumentalisiert haben.
Frage: Warum hat es diese Einmischung gegeben, warum traf es immer wieder Afghanistan?
Dr. Baraki: Afghanistan war stets Opfer seiner geostrategischen Lage. Im 19. Jahrhundert ein umstrittenes Gebiet
im "Great Game" zwischen Großbritannien, mit Britisch-Indien, und dem zaristischen Russland. Diese beiden Länder
haben immer versucht Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen, mit einem Unterschied: Die Russen sind zwar
immer allgemein als die Bösen verschrieen, aber sie haben nie das afghanische Territorium angegriffen oder besetzt.
Sie haben nie die Grenze überschritten. Aber die Briten haben Afghanistan zweimal komplett besetzt, sie wollten
Afghanistan kolonialisieren.
Um noch mal auf Ihre Frage zurückzukommen: Afghanistan war also stets Opfer seiner geostrategischen Lage und an
seiner Bedeutung hat sich bis heute nichts geändert. Stellen Sie sich nur einmal die Karte Afghanistans vor. Rings
um Afghanistan: Iran, eines der wichtigsten Länder in der Region, ein Öl exportierendes Land, Mittelasien, der
Kaukasus, der indische Subkontinent und wir sind auch gar nicht weit entfernt vom Irak oder dem Nahen Osten, wo
sich die meisten Ölquellen befinden. Hier wird noch ein Mal die geostrategische Bedeutung Afghanistans
offensichtlich.
Frage: Es entsteht der Eindruck, dass westliches Militärengagement bislang eher Teil des Problems als Teil einer Lösung war. Aber sollte nicht doch, allein um die vielen ausländischen Hilfsorganisationen zu schützen, wenigstens vorübergehend jemand mit "eiserner Faust" für Ordnung sorgen?
Dr. Baraki: Genau so wie in der ersten Phase des Afghanistan-Konfliktes die auswärtigen Faktoren den Konflikt
verschärft haben, ist es heute auch. Wir müssen ein Stück zurückblicken zur Petersberger Konferenz. Was ist auf
dem Petersberg eigentlich passiert?
Noch während des Krieges gegen Afghanistan haben die USA unter der formalen Schirmherrschaft der UNO eine Konferenz
auf dem Petersberg bei Bonn einberufen, auf dieser Konferenz waren Monarchisten und drei Modjahedingruppen
eingeladen. Also wurde, unter der formalen Schirmherrschaft der UNO, Afghanistan schon auf dem Petersberg, wenn
Sie so wollen "warlordisiert". Diese "Warlordisierung" wurde auf dem Petersberg sogar vertraglich festgeschrieben.
Andere Kräfte, zum Beispiel die der Zivilgesellschaft, wurden überhaupt nicht beteiligt, nicht einmal die säkularen
Kräfte. Die Monarchisten wurden schließlich auf dem Petersberg marginalisiert, sie haben keinen großen Einfluss
gehabt.
Mein Vorschlag für den Petersberg war, und das war auch die Position der Bundesregierung und der EU, dass man dem
afghanischen Ex-Monarchen Saher Schah die Möglichkeit geben sollte in Afghanistan eine gewisse Rolle zu spielen.
Das wollten die USA aber nicht. Damit haben sie bereits die Grundlage falsch gelegt. Sie haben ihre Position und
ihre Interessen durchgesetzt und eine Koalition mit verschiedenen afghanischen Kriegsparteien geschlossen. Bei uns
sagt man, wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, ist der ganze Fluss schmutzig. Man hat also von Anfang an statt
nach einer friedlichen nach einer militärischen Konfliktlösung gesucht, und das war, wie fast immer, der falsche
Weg.
Die Folge ist, dass wie man bei Ihnen sagt, das Kind jetzt in den Brunnen gefallen ist. Und von außen gesehen ist
die Meinung, es gäbe keine Alternative zur militärischen Lösung, um die internationalen Hilfsorganisationen und
auch die Afghanen militärisch zu schützen, verständlich. Meiner Meinung nach führt dieser Weg in die Sackgasse
und das Problem wird dadurch nicht gelöst.
So eine Auffassung wird von den ausländischen Mächten, die in Afghanistan involviert sind propagiert, um eine
Legitimation für eine Militärpräsenz in Afghanistan zu schaffen. Hochrangige Militärs der USA und auch
Politiker, wie der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sagen: Wir werden in Afghanistan auf Dauer bleiben.
Das heißt, das Land soll vor allem für die USA, aber jetzt auch für die NATO, denn die hat seit kurzem das
Oberkommando, als eine Art Militärbasis genutzt werden. Ein Protektorat ist Afghanistan schon jetzt.
Frage: Also gibt es keinen nennenswerten Unterschied, ob die Militäraktion unter der Hoheit er USA oder der NATO stattfindet?
Dr. Baraki: Das unterscheidet sich überhaupt nicht. Die USA haben immer die Meinung vertreten und das ist auch
die Strategie der USA im Bezug auf Afghanistan und die Region, dass sie eine militärische Lösung anstreben. Sie
selbst führen die militärischen Aktionen durch, und die anderen Verbündeten sollen nachher die Scherben
zusammenkehren. Das ist die gewollte Arbeitsteilung seitens der USA.
Aber die NATO-Verbündeten sagen: Nein, wir wollen von Anfang an beteiligt sein. Wenn wir beteiligt werden,
werden wir mitmachen, wenn nicht, machen wir auch nicht mit. In Afghanistan machen sie mit. Wir sehen jetzt
im Irak, dass die Verbündeten sagen: Nein, hier machen wir nicht mit, wir werden dann mitmachen, wenn wir auch
an dem Kuchen, den es zu verteilen gibt, gleichberechtigt beteiligt werden.
Bis vor kurzem war Schröder absolut gegen ein deutsches militärisches Engagement in Irak. Als dann Baker, der
ehemalige Außenminister der USA in Berlin war und das Angebot unterbreitete, dass bundesdeutsche Firmen bei
den Aufträgen in Irak berücksichtigt werden, (wir wissen inzwischen, dass die Firma Siemens mittlerweile Aufträge
bekommen hat), schwenkte Schröder plötzlich um und sagte: Ja, vielleicht können wir uns zunächst mit einem
Lazarett und humanitärer Hilfe beteiligen.
Aber das ist genau der Weg den wir von den militärischen Engagement der Bundesrepublik der vergangenen Jahre
kennen. Immer werden am Anfang Lazarette irgendwo hingeschickt oder andere Hilfsangebote gemacht. Und später
engagiert sich die Bundeswehr militärisch. Ich glaube, das ist ein Türöffner für ein weiteres Militärengagement
der Bundesrepublik, auch im Irak. Wenn Aufträge an deutsche Firmen gehen, wird sich die Bundesrepublik sehr
wahrscheinlich auch militärisch engagieren.
Frage: Aber könnte nicht die Bundeswehr für die humanitären Hilfsorganisationen eine Art Schutzfunktion erfüllen?
Dr. Baraki: Genau das ist der eigentliche Haken bei dieser Sache. Als die Bundesrepublik oder genauer die
Bundeswehr zunächst nach Westafghanistan in das Reich von Esmael Khan gehen und sich dort engagieren wollte,
hat dieser gesagt: Nein, ihr seid hier unerwünscht. Von vornherein hat er es kategorisch abgelehnt, dass sich
die Bundeswehr in Herat, seinem Einflussbereich engagiert.
Danach wurden andere Wege und Ziele gesucht und gefunden, nämlich dass die Bundeswehr nach Nordafghanistan,
nach Kundus gehen soll, vorgeblich um die dort tätigen Hilfsorganisationen zu schützen. Und ausnahmslos alle
Hilfsorganisationen, die dort tätig sind, haben gesagt: Wir wollen von der Bundeswehr nicht geschützt werden,
hier ist es friedlich und wenn die Bundeswehr hierher kommt, wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen unserer
Arbeit und der Präsenz der Bundeswehr und damit werden wir zur Zielscheibe von Angriffen, sei es von den Taliban
oder den Modjahedin. Also die Präsenz der Bundeswehr war seitens der Hilfsorganisationen unerwünscht. In den
hiesigen Medien wurde allerdings meistens die Position der Regierung verbreitet.
Meine These war, dass die Bundeswehr und später dann die NATO hiermit den Versuch unternehmen, Afghanistan,
genauer die Gebiete der Warlords, zunächst militärisch zu unterwandern, um sie später leichter vollständig zu
besetzen. Das ist das Ziel. Seit ich diese These erstmals aufgestellt habe, ist diese Vorgehensweise für alle
offensichtlich geworden. Meine These hat sich also tatsächlich bewahrheitet und die Strategie wird Schritt für
Schritt weiter umgesetzt.
Frage: Aber es gibt ja einen Aufruf von 79 NGO´s, die NATO mit einem robusten Mandat auszustatten um humanitäre Hilfe zu ermöglichen...
Dr. Baraki: Sie wissen, dass im Krieg keine Humanität möglich ist. Da kann man nur Opfer bergen, aber keinen Aufbau leisten. Die Aufgabe muss doch sein, Bedingungen zu schaffen für einen Wiederaufbau. Wenn die NATO mit einem robusten Mandat ausgestattet wird, dann bedeutet das Krieg. Das bedeutet wieder Bürgerkrieg, ein Krieg von Warlords wie Hekmatjar sowie seinen Verbündeten Al Qaidah und Taliban gegen die NATO. Das ist eigentlich der falscheste Weg, den man sich überhaupt vorstellen kann.
Frage: Gibt es denn in der jetzigen Situation eine andere Möglichkeit? Also gäbe es die Möglichkeit, einer Verlängerung des Bundeswehr-Mandats nicht zustimmen zu müssen?
Dr. Baraki: Ja, indem man sagt, das man nicht den kriegerischen Weg gehen will. Wir wollen einen friedlichen Weg
und eine friedliche Lösung.
Ich sagte vorhin, dass das Kind schon auf dem Petersberg in den Brunnen gefallen ist. Für Petersberg habe ich
einen alternativen Vorschlag gemacht, davon hat man aber nichts wissen wollen. Mein Vorschlag war, dass
Afghanistan, das sowohl Mitglied der Blockfreien Staaten als auch der Konferenz der islamischen Staaten ist,
militärische Hilfe von diesen verbündeten Staaten erhält. Nicht die NATO oder die Bundeswehr, sondern die
blockfreien Staaten und die Mitglieder der Konferenz der islamischen Staaten sollten Militär nach Afghanistan
schicken, um für eine begrenzte Zeit die Helfer oder auch die Politiker zu schützen.
Außerdem hätte man mit den Warlords keine gemeinsame Sache machen dürfen, statt dessen Bedingungen für den
Aufbau einer Zivilgesellschaft schaffen müssen, von mir aus sogar mit den ehemaligen Monarchisten und ehemaligen
Technokraten, die zumindest säkular orientiert sind. Diese Kräfte hätte man auf dem Petersberg eigentlich
unterstützen und zur Macht verhelfen sollen. Und sie dann militärisch durch Truppen der Blockfreien und der
Konferenz Islamischer Staaten schützen lassen sollen. Diese Militäreinheiten hätten bei der afghanischen
Bevölkerung mehr Akzeptanz gefunden als fremde Mächte, wie NATO oder die USA.
Den USA ging es ja sowieso nicht um Afghanistan, sondern darum das Land als Militärbasis zu nutzen für weitere
Aktionen in dieser Region. Wenn sie so wollen ist Afghanistan ein unsinkbarer Flugzeugträger für die USA und
nichts anderes.
Frage: Wenn Sie sagen, man befindet sich in einer Sackgasse, gibt es dann noch die Option der nicht-militärischen Lösung des Problems? Wie könnten Forderungen der Friedensbewegungen aussehen im Bezug auf Afghanistan?
Dr. Baraki: Man muss vielleicht wieder einen Schritt zurückgehen. Die Militäreinheiten der westlichen Allianz,
der USA, sollten aus Afghanistan abgezogen werden. Wenn das geschähe, wäre wohl die erste Reaktion der
Extremisten von Al Qaidah oder der Taliban und auch der Islamisten von Hekmatjar, dass sie ihre Auseinandersetzungen
oder ihre terroristische Aktionen und ihre Zerstörungen (sie zerstören ja auch Schulen und Infrastruktur) stoppen.
Zweitens müsste man versuchen, eine Loja Dschirga ohne US-amerikanische Bevormundung abzuhalten. Statt dessen
vielleicht mit der Unterstützung der Konferenz der islamischen Staaten, der Blockfreien, der UNO oder der OSZE,
Bedingungen schaffen für eine demokratisch legitimierte Loja Dschirga. Damit also nicht Warlords durch Gewalt
oder mit Stimmenkauf dorthin kommen, sondern die Menschen ihre Vertreter tatsächlich frei wählen können. Diese
Wahlen wären von den genannten Institutionen zu kontrollieren.
Auf einer solchen, demokratisch zustande gekommenen Loja Dschirga, wäre dann zu beschließen, welchen Weg das
afghanische Volk einschlagen will. Und ich bin davon überzeugt, das Ergebnis würde zu dem, was auf dem Petersberg
und in der Folge auf den beiden Loja Dschirgas beschlossen worden ist, um 180 Grad anders ausfallen.
Das wäre meiner Meinung nach der einzige Weg, der zu dauerhaftem und nachhaltigem Frieden in Afghanistan führen
kann.
Frage: Die Kernforderung wäre damit also der Abzug des US - oder NATO Militärs?
Dr. Baraki: Das ist in der Tat die Hauptforderung des afghanischen Volkes, welches vor allem jede militärische
Lösung ablehnt. Ich war letztes Jahr in Afghanistan, die Menschen haben buchstäblich die Nase voll vom Krieg,
sie wollen keinen Krieg mehr.
Die Bevölkerung will keinen Krieg, Krieg wollen die Warlords, weil ihre Interessen nur im Krieg durchsetzbar
sind. Sie sind ja zum größten Teil selbst Heroinbarone und das können sie nur unter Ausnahmebedingungen bleiben,
solange keiner in der Lage ist, sie zu kontrollieren bzw. sie zu entmachten. Da sie bis zu den Zähnen bewaffnet
sind, werden sie sich gegen jeden Versuch einer Entmachtung zu verteidigen wissen. Mit dieser Menge an
Waffen können sie ihre Interessen vertreten, ihre Geschäfte machen und auf die Bevölkerung Druck ausüben.
Genauso wie auf die Bauern, die gezwungen werden Mohn anzubauen. Also, in einem Krieg oder in Ausnahmesituationen
können wir für keinen Teil des Landes friedliche Lösungen finden, das ist nicht möglich.
Frage: Der Konflikt zwischen den verschiedenen Parteien in Afghanistan wird hier vor allem als ethnischer Konflikt dargestellt. Wie sah das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor den Taliban aus? Gab es ethnische Spannungen oder waren die unterschiedlichen Volksgruppen kein Problem für das Zusammenleben?
Dr. Baraki: Ich habe in dem Beitrag "Islamismus und Großmachtpolitik in Afghanistan" genau aufgezeigt, wann der
Afghanistan-Konflikt ethnisiert und wann er "islamisiert" worden ist: In einem so unterentwickelten Land wie
Afghanistan ist die Religion das beste Mittel, das beste Instrument, die Bevölkerung zu mobilisieren. 1978
haben linksorientierte Kräfte in Afghanistan Reformen eingeleitet. Man bezeichnete sie als Kommunisten, aber
ich kenne keinen Menschen in dieser Organisation, der wirklich Kommunist gewesen wäre. Man hat diese Menschen
als Kommunisten abgestempelt, um die Massen besser gegen sie mobilisieren zu können. Damals hat man ihnen
eingeredet: Jetzt sind die Kommunisten an der Macht, unsere Religion ist in Gefahr, wir müssen unsere Religion
verteidigen. Das war die Geburtsstunde des islamischen Fundamentalismus, in dieser Intensität, wie wir ihn heute
kennen.
Sowohl regionale als auch internationale Gegner der afghanischen Regierung haben dabei nicht nur afghanische
Islamisten und Teile der afghanischen Bevölkerung mobilisiert, ausgebildet und ausgerüstet, in insgesamt 85
Ausbildungslagern in Pakistan, sondern auch Islamisten aus der ganzen Welt. In Afghanistan hat man den islamischen
Fundamentalismus groß gemacht. Diese Islamisten haben bis zum Jahr 1989 gegen die afghanische Regierung und gegen
die sowjetische Militärpräsenz gekämpft. Nach dem Abzug des sowjetischen Kontingents wurde der Kampf gegen die
auf sich allein gestellte afghanische Regierung fortgesetzt.
1992 schließlich hat die afghanische Führung kapituliert und die Macht an die Modjahedin übertragen. Es handelte
sich in der Tat um eine Machtübertragung. In der hiesigen Presse war zwar zu lesen, die Modjahedin seien
siegreich in Kabul einmarschiert, aber in Wirklichkeit handelte es sich um eine Vereinbarung zwischen der
damaligen afghanischen Regierung und den Islamisten. Kabul wurde kampflos den sogenannten "gemäßigten Islamisten"
übergeben. Sebgatullah Modjadei, ein Opportunist par excellence, wurde der erste Präsiden des "Islamischen
Staates Afghanistan".
Aber die Islamisten haben nicht gemeinsam in Afghanistan regiert, sondern den Krieg gegeneinander weiter
fortgesetzt. Die Bevölkerung konnte nicht verstehen, warum sie das taten. Die Kommunisten aus der Sowjetunion
waren abgezogen, die so bezeichneten afghanischen Kommunisten hatten kapituliert. Warum also kämpfen die
Moslembrüder, die Modjahedin jetzt gegeneinander?
Das war die Geburtsstunde der Ethnisierung des Afghanistankonfliktes. Um der Bevölkerung die Fortführung des
Krieges verständlich zu machen, hat man eine neue Karte ins Spiel gebracht: Die Ethnizität. Modjahedingruppen,
die vorher multiethnisch waren, haben sich dann ethnisch "gesäubert". Das wurde durchgeführt, um den Krieg in
Afghanistan für die jeweils eigenen, politischen, ökonomischen und ideologischen Ziele zu legitimieren und
fortzusetzen. Das Auftauchen der Taliban war dann die logische Folge dieser Politik.
Frage: Wie stark ist ihrer Meinung nach die Festigung des islamischen Fundamentalismus in der Bevölkerung, vor allem nach den Taliban?
Dr. Baraki: Die islamischen Funda-mentalisten sind in der Bevölkerung sehr verhasst. Das ist die Erfahrung,
die ich in den letzten drei oder vier Jahren in Afghanistan aber auch in Pakistan gemacht habe.
Ich war in Afghanistan und Pakistan, auch in Flüchtlingslagern, und habe dort mit vielen Menschen gesprochen.
Sie hassen die islamischen Fundamentalisten, weil sie sie für die Zerstörung des Landes verantwortlich machen.
Fundamentalisten haben überhaupt keinen Rückhalt in der Bevölkerung. In den paschtunischen Stammesgebieten mag
das durchaus anders sein.
Aber die Politik, die jetzt betrieben wird, die angestrebte militärische Lösung des Afghanistan-Konfliktes,
liefert die Menschen den Extremisten geradezu aus. Das ist das Problem, deswegen sage ich ja auch, das es keine
militärische Lösung des Afghanistan-Konfliktes geben kann und wird. Dieser Weg führt in die Sackgasse, und wir
müssen friedliche, alternative Lösungen finden.
Frage: Ist das in Afghanistan jetzt etablierte politische System, mit Karsai an der Spitze, teil einer stattfindenden Normalisierung und damit ein Weg zur Befriedung Afghanistans? Oder ist es eher ein Teil des Problems?
Dr. Baraki: Ganz sicher ist es Teil des Problems, dessen Grundstein auf dem Petersberg gelegt worden und in
den Jahren 2002 und 2003 auf den Loja Dschirgas ausdrücklich zementiert wurde, indem Karsai als Chef dieser
Administration in Kabul jedes Mal wieder installiert worden ist. Brahimi, der UN-Beauftragte für Afghanistan
hatte den Versammlungsteilnehmern Flugblätter verteilen lassen, aus denen hervorgeht, dass die Parlamentswahlen
in Afghanistan verschoben werden müssen. Ein Verstoß gegen die Vereinbarungen auf dem Petersberg. Die USA und
Karsai wollten, dass im diesem Jahr zunächst Karsai gewählt wird, ganz nach ihren Vorstellungen. Damit sollten
vollendete Tatsachen geschaffen werden, damit Karsai von der Position der Stärke aus die Parlamentswahlen
dominieren kann. Was die USA als Wahl bezeichnen, ist in Wirklichkeit Betrug. So haben sie bei der letzten Loja
Dschirga 10 Millionen Dollar zum Kauf von Stimmen für Karsai ausgegeben. Und jetzt sollen doch beide Wahlen im
Herbst durchgeführt werden. Weil die Gegner von Karsai damit nicht einverstanden gewesen sind.
Karsai und seine Entourage sind Teil des Problems, und mit Karsai wird es kein Lösung des Afghanistan-Problems
geben. Das hängt mit den Interessen der USA in Afghanistan zusammen. Andere Lösungen lassen sie nicht zu. Sie
selbst sind ein Faktor von Instabilität in und um Afghanistan.
Als der afghanische Ex-Monarch Saher Schah im Vorfeld der Loja Dschirga von Juni 2002 aus seinem römischen Exil
nach Kabul zurückkehren wollte, intervenierte US-Präsident George W. Bush persönlich beim italienischen
Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, damit dieser Saher Schah daran hindert, rechtzeitig nach Kabul zu gehen.
Es sollte ihm keine Gelegenheit gegeben werden, für sich Wahlkampf zu machen.
Trotzdem hat es eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, vor allem bei den Paschtunen, für Saher Schah
gegeben. Viele Afghanen wünschten sich ihn als Präsidenten. Aber Saher Schah wurde von Zalmay Khalilzad, einem
gebürtigen Afghanen und Sonderbeauftragten des US-Präsidenten für Afghanistan, zwischenzeitlich zum
US-Botschafter in Kabul ernannt, unter massiven Druck gesetzt: "Wenn Du kandidierst, gibt es keine militärische
und finanzielle Unterstützung von unserer Seite". Und Khalilzad, nicht etwa Saher Schah selbst, gab in der
US-Botschaft bekannt, dass Saher Schah zugunsten von Karsai auf seine Kandidatur verzichtet. Das bedeutet,
die USA setzen nur ihre eigenen Interessen in Afghanistan durch.
Frage: Könnte also der König eine Funktion als Integrationsfigur für ganz Afghanistan erfüllen, der Nation ein gemeinsames vereinendes Symbol sein?
Dr. Baraki: Ich bin davon überzeugt. Die Menschen in Afghanistan träumen von der Zeit seiner Herrschaft. Sie
hatten zwar damals nicht viel zu essen, nicht viel Arbeit und wenig Bildung, aber es war jedenfalls besser als
heute. Auch wenn es damals nicht so war, wie man es sich wünschen würde, so herrschte doch immerhin Frieden.
Die Menschen in Afghanistan und in Pakistan, mit denen ich im letzten Jahr gesprochen habe, redeten immer nur
von Frieden, Frieden und nochmals Frieden.
Deswegen wollen sie Saher Schah, weil sie mit ihm friedliche Zeiten verbinden. Er könnte wieder Frieden nach
Afghanistan bringen, er könnte die verschiedenen Fraktionen und Stämme wieder einen und so als Integrationsfigur
eine wichtige Rolle spielen.
Außerdem bin ich davon überzeugt, dass sich um Saher Schah eine Menge säkular orientierter Kräfte und
Technokraten sammeln würden, die wissen, wie man regiert, wie man eine Verwaltung leitet. Und auch sie könnten
ja eine positive Rolle spielen. Daraufhin würden auch viele Exil-Afghanen, unter anderem auch ich, nach Afghanistan
zurückkehren, um beim Wiederaufbau des Landes ihren Beitrag zu leisten.
Im Moment werde ich persönlich sogar im Ausland bedroht. Ich war im Jahre 2003 in Tadschikistan, wo ich nach
einem Vortrag über eine politische Lösung des Afghanistan-Konfliktes, nur knapp einer Entführung entgangen bin.
Ich konnte mich erst in letzter Sekunde retten. Kritische Intellektuelle sind also sogar im Ausland bedroht.
In Afghanistan haben wir momentan keine Chance zu arbeiten und zu leben. Unter den jetzigen Bedingungen,
einer Regierung von Warlords, Modjahedin-Kommandanten, Heroinbaronen und amerikanischen Afghanen, gibt es
keinen Raum für uns. Da sind wir unerwünscht.
Frage: Was ist von der neuen Verfassung für Afghanistan zu halten, ist dies eine wirklich afghanische Verfassung?
Dr. Baraki: Diese Verfassung bedeutet Unheil, und zwar aus zwei Gründen: Erstens wurde Afghanistan durch diese
Verfassung ein islamischer Staat, eine Entscheidung an der das afghanische Volk lange zu tragen haben wird.
Denn die Islamisten werden interpretieren, was islamisch ist und was nicht. Hier wird wiederum die Religion
zum politischen Instrument, wie in den vergangenen Jahren durch die Modjahedin und Taleban. Zweitens ist die
Scharia, das islamische Recht, zwar in der Verfassung nicht explizit verankert, aber es gibt den Paragraphen
drei der Verfassung, der besagt, dass kein Gesetz gegen die Regeln des Islam verstoßen darf. Das bedeutet, die
Scharia ist über Umwege in die Verfassung aufgenommen worden. Diese Verfassung wurde von großen Teilen der
Delegierten abgelehnt. Die Mehrheit wollte eine Republik Afghanistan, jedoch keine islamische, sowie kein
Präsidialsystem nach amerikanischem Muster, sondern eine parlamentarische Demokratie mit einem Ministerpräsidenten
als Regierungschef, der dem Parlament gegenüber verantwortlich ist.
Die USA, namentlich Mr. Khalilzad, haben aus der Loja Dschirga nichts anderes als eine Showveranstaltung gemacht.
Die wirklichen Entscheidungen wurden hinter verschlossenen Türen in Anwesenheit von Khalilzad, von Brahimi und dem
EU Beauftragten Francesc Vendrell geführt. Sie haben dort entschieden, was in die Verfassung hineinkommt und was
nicht. Diese Verfassung ist keineswegs eine afghanische, sondern eine nach US-amerikanischen Vorstellungen
aufoktroyierte.
Frage: Besteht dann überhaupt die Chance einer verfassungsmäßigen Ordnung unter dieser Verfassung?
Dr. Baraki: Das glaube ich nicht. Schon auf der Loja Dschirga hat Mohammad Rauf Mehdi, der afghanische Flüchtlinge
in Iran vertrat, Unterschriften gesammelt. Ihm fehlten fünf Stimmen, um seinen Antrag auf die Tagesordnung setzen
zu können. Er war gegen diese Verfassung, weil er verhindern wollte, dass Afghanistan eine islamische Republik
wird.
Er wurde deshalb von den Islamisten bedroht und musste von der UNO geschützt werden. Selbst wenn er genug
Unterschriften bekommen hätte, wäre niemand willens gewesen, einen solchen Antrag angesichts von Warlords und
Islamisten öffentlich zu begründen. Mehdi wurde von dem Vorsitzenden der Versammlung, Sebgatullah Modjadedi als
Kommunist und Ketzer bezeichnet. Er wurde anschließend von den beiden Ultraislamisten Sayaf und Rabani zu einem
"Gespräch" zitiert. Vendrell sah sich zu einer Intervention gezwungen und wies darauf hin, dass er ein solches
Verhalten eher von den Taliban erwartet hätte und nicht von dieser Versammlung.
Auch jetzt, nach der Loja Dschirga werden weiter Unterschriften gesammelt, die sich sowohl gegen diese Verfassung
als auch gegen dieses System richten. Ein bekannter Oppositioneller gab bekannt: "Wenn wir an die Macht kommen,
werden wir diese Präsidialdemokratie abschaffen". Wie sie sehen, die Akzeptanz der neuen Verfassung ist sehr
gering.
Abgesehen davon ist in Afghanistan die geschriebene Verfassung das eine, aber die Umsetzung steht auf einem
ganz anderen Blatt. Sobald die Warlords und Heroinbarone unter den Delegierten wieder in ihren Regionen sind,
werden sie sich um die neue afghanische Verfassung, die sie sowieso nicht akzeptieren, nicht weiter scheren.
Frage: Als einer der Gründe für die militärische Intervention, wurde neben dem Krieg gegen den Terrorismus, immer wieder die Unterdrückung der afghanischen Frauen durch die Taliban genannt. Ist nach dem Krieg gegen die Taliban eine Veränderung in der Situation der afghanischen Frauen eingetreten, oder ist eine solche Entwicklung abzusehen?
Dr. Baraki: Wenn wir vergleichen zwischen der Zeit der Taliban und heute, ist ohne Zweifel eine relative, geringe
Verbesserung auch für die Frauen sichtbar, die den Mädchen und Frauen aber noch längst kein normales Leben
ermöglicht.
Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen. Als ich im Frühjahr 2003 in Kabul war, wurde auf offener Strasse, am
hellen Tag, eine junge Frau von Polizisten entführt. Von Polizisten! Die Frau hat laut geschrieen, und die
Menschen sind dadurch auf die Sache aufmerksam geworden. Durch das beherzte Eingreifen der Passanten konnte sie
befreit werden.
Das heißt aber, dass Frauen sich auch unter den jetzigen Bedingungen in Afghanistan, vor den Augen der
internationalen "Schutztruppen" nicht einmal sicher und frei auf der Straße bewegen können, von anderen Rechten,
die wir als selbst-verständlich ansehen, mal ganz abgesehen. Es gibt zwar auch Mädchen und Frauen, die zur
Schule oder zur Arbeit gehen, das dürfen sie aber nur, wenn ihre Väter bzw. Männer einverstanden sind, und wenn
es überhaupt eine Mädchenschule gibt bzw. wenn sie überhaupt eine Arbeit bekommen, was besonders auf dem Land
eher selten der Fall ist. So gehen z.B. über die Hälfte aller afghanischen Kinder immer noch nicht zur Schule,
wobei 70% der Mädchen nach Angaben von UNICEF sogar von jeglichem Unterricht ausgeschlossen sind. Nur sehr wenige
Frauen trauen sich auch heute noch ohne Schleier auf die Strasse. Bis zur Tür ihrer Arbeitsstelle tragen sie
Schleier oder sogar die sackähnliche alles verhüllende "Burqua". Die Mutigeren, die sich doch trauen, keinen
Schleier zu tragen, werden von Männern bespuckt, beschimpft, beleidigt oder Schlimmeres. Es gibt immer noch
Vergewaltigungen, es gibt immer noch Entführungen von Frauen. Um die geschätzten 30.000 Straßenkinder und um
die 55.000 Witwen allein in der Hauptstadt Kabul kümmern sich zumeist nur die Statistiker.
Auf der letzten Loja Dschirga ist die junge Delegierte Malalei Joia, eine Sozialarbeiterin aus einer westlichen
Provinz Afghanistans, aufgetreten und hat sich getraut, in Anwesenheit von Warlords und Heroinbaronen
festzustellen: "Hier unter diesem Zelt sitzen lauter Räuber, Drogenhändler, Verbrecher und Mörder. Sie haben das
Land aus Machtgier und Geldgier zugrunde gerichtet. Sie gehören nicht in eine freie, erhabene Versammlung, sondern
vor Gericht". Frau Joia wurde mit dem Tode gedroht und musste bis zur letzten Minute auf der Loja Dschirga von
der UNO geschützt werden. Ob sie heil und gesund nach Hause gekommen ist, wissen wir nicht.
Die Rechte der Frauen sind zwar in der Verfassung verankert, insofern als alle afghanischen Bürger gleichberechtigt
sind, aber weibliche Delegierte und eine kleine Gruppe von Männern, die für die Rechte der Frauen eintreten,
haben gefordert, dass die Formulierung "Frauen und Männer sind gleichberechtigt" in die Verfassung aufgenommen
werden muss. Diese Forderung wurde durchgesetzt und der jetzt existierende Verfassungsartikel ist gut und schön.
Aber die Realität in Afghanistan sieht ganz anders aus. Die Frauen werden in allen Angelegenheiten deswegen
benachteiligt, weil Frauen aus der Sicht der Islamisten überall unerwünscht sind. Diese Islamisten sagen:
"Wir wollen nicht, dass die Mädchen zur Schule gehen und die Frauen arbeiten". Die Schulen, die von ihnen
angegriffen und zerstört werden, sind vorzugsweise Mädchenschulen.
Frage: Gibt es eine Möglichkeit in einer Gesellschaft wie der Afghanischen eine schnelle Verbesserung der Situation der Frauen zu erreichen?
Dr. Baraki: Genauso wie es keine schnelle Lösung des Afghanistan-Konfliktes gibt, wird es auch keine schnelle
Verbesserung der Situation der afghanischen Frauen geben.
Da das Land und die gesamte Infrastruktur total zerstört sind, die politischen Rahmenbedingungen äußerst schlecht
sind, und immer wieder versucht wird, eine militärische Lösung des Konfliktes zu erreichen, verschlechtert das
natürlich die Bedingungen für einen friedlichen Aufbau und damit insbesondere für die Verbesserung der Situation
der Frauen erheblich. Da muss man einen langen Atem haben. Eine wirkliche Befriedung des Landes würde schneller
und nachhaltig zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen für die gesamte Bevölkerung in Afghanistan führen.
Die NATO orientiert statt dessen auf die militärische Besetzung des gesamten Landes, wie ihr Generalsekretär Jaap
de Hoop Scheffer unmissverständlich angekündigt hat.
Frage: Wo sind die Probleme beim Wiederaufbau des Landes? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Wiederaufbau? Und wie geht er voran?
Dr. Baraki: Von einem Wiederaufbau im eigentlichen Sinne kann man nicht sprechen. Aber die internationalen NGO´s stellen hier und da Schulen, Krankenhäuser wieder her, oder versuchen die Bewässerungssysteme in Stand zu setzen. Wiederaufbau sollte eigentlich ein bisschen umfassender sein als nur Reparaturmaßnahmen.
Frage: Wie ist die humanitäre Situation in Afghanistan?
Dr. Baraki: Die humanitäre Situation befindet sich am Rande der Katastrophe. Die Flüchtlinge, die aus Iran oder
Pakistan zurückgekommen sind, haben keine Unterkunft und keine Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Sie stehen vor dem Nichts. In verschiedenen Teilen des Landes wurden neue Flüchtlingslager errichtet, wo sie
untergebracht sind. Weil es dort aber nicht sicher ist, sind viele Flüchtlinge schließlich nach Kabul gekommen.
Am Rande von Kabul gibt es neuerdings große Flüchtlingslager. Der Westen der Stadt ist ja komplett zerstört und
die Menschen leben in Ruinen. In Kabul war es, seit ich mich erinnern kann, so, dass Menschen die von außerhalb
in die Stadt kamen, in den Bergen Lehmhütten für sich gebaut haben (Kabul liegt in einem Tal), um ein Dach über
dem Kopf zu haben.
Das haben sie auch jetzt wieder getan. Der Polizeichef von Kabul, Herr Salangi, aus der Pandjscheri-Fraktion hat
den Befehl gegeben, diese Hütten zu zerstören. Dabei sind viele Menschen unter den Trümmern begraben worden.
Darüber ist in der Presse auch berichtet worden. Die UNO hat gegen dieses Vorgehen der Kabuler Polizei protestiert.
Wenn aber die Flüchtlinge Geld haben und den Polizisten Bakschisch geben können, dann bleiben sie unbehelligt.
Die humanitäre Lage ist also katastrophal. Die Menschenrechte werden permanent verletzt. Afghanische Politiker
verweisen gerne darauf, dass in Kabul viele Zeitungen veröffentlicht werden, aber es gibt diese freie Presse
nicht. Sie gehört fast ausschließlich den Warlords, den Mojahedin-Kommandanten oder islamistischen Gruppierungen.
Zwar gab es ein oder zwei Gruppen, die tatsächlich versucht haben, unabhängige Zeitungen herauszugeben, aber
sobald sie irgendeine Kritik an der Regierung oder an Mitgliedern der Regierung üben, werden ihre Redaktoren
sofort verhaftet und die Zeitung verboten. Redakteure der Zeitschrift "Lemaar" sind sogar zum Tode verurteilt
worden, weil sie die Modjahedin-Kommandanten und Warlords kritisiert hatten. Sie wurden als Ketzer und Kommunisten
bezeichnet. Sie haben sich zunächst versteckt und in der Illegalität gelebt und sind später nach Kanada entkommen.
Von einer freien Presse kann also gar keine Rede sein.
Inzwischen gibt es wieder Religionswächter in Kabul, die uns aus Talibanzeiten wohl bekannt sind, die durch die
Strassen laufen und kontrollieren, ob die Frauen der Scharia entsprechend angezogen sind oder ob die Menschen
zum Gebet in die Moschee gehen und gegebenenfalls mit ihren Peitschen nachhelfen.
Tanzen und Musik sind zum Beispiel in Westafghanistan, wo Esmael Khan herrscht, wieder verboten. Frauen und
Männer dürfen bei Hochzeiten nicht zusammen feiern und so weiter.
Frage: Wie sieht es auf der wirtschaftlichen Seite aus? Gibt es nennenswerte Investitionen in Afghanistan, und wenn ja von wem? Und vor allem: Hat die Bevölkerung etwas davon?
Dr. Baraki: Eine Wirtschaft im eigentlichen Sinne existiert in Afghanistan überhaupt nicht. Der einzige Bereich,
der gut funktioniert und floriert, ist der Handel. Afghanistan ist zu einem El Dorado für aus-ländische Waren
geworden. Sie werden vor allem in Kabul an die Mitarbeiter der über 800 internationalen Organisationen und an
afghanische Kriegsgewinnler verkauft. Wer in Kabul über reichlich Dollars, die eigentliche afghanische Währung,
verfügt, kann sich alles kaufen. Diejenigen, die diesen Handel betreiben profitieren auch davon.
Daneben stellen nach wie vor der Anbau von Mohn und der Handel mit Heroin die lukrativsten Einnahmenquellen dar.
Von diesen Bereichen abgesehen, existiert keine Wirtschaft in Afghanistan.
Ausländische Investoren gibt es kaum, obwohl es ein sehr attraktives Investitionsgesetz gibt, das der
Wirtschaftsberater von Karsai, ein bundesdeutscher Wirtschaftswissenschaftler, mit konzipiert hat. Die
ausländischen Unternehmen können 100% ihrer Profite, die sie im Land machen, in ihre Heimatländer transferieren,
und für mehrere Jahre brauchen sie überhaupt keine Steuern zu bezahlen. Trotzdem halten sich internationale
Investoren immer noch von Afghanistan fern. Fehlende Sicherheit sowie weiterer Rechtsgrundlagen, ein Mangel an
qualifiziertem Personal, an adäquaten Verkehrsverbindungen und ausreichender Stromversorgung und last but not
least die exorbitanten Bodenpreise in Kabul stehen einem Engagement entgegen. Im ersten Jahr der
Karsei-Administration sind zwar über 5000 Geschäftslizenzen ausgestellt worden, davon aber nur 10% an ausländische
Unternehmer. Aber selbst diese wenigen investieren nicht, nachdem sie sich einen Überblick über die realen
Verhältnisse vor Ort verschafft haben.
Die minimalen Investitionen die es gibt, betreffen vor allem den Bereich der Konsumwirtschaft, der eben schon
angesprochen wurde. Es handelt sich aber meist um sehr kleine Geschäfte, die für die wirtschaftliche Entwicklung
des Landes kaum von Bedeutung sind.
Frage: Was ist die Rolle der Bundesrepublik beim Weideraufbau Afghanistans? Gibt es Projekte, von denen sie sagen würden: das ist der richtige Weg, oder ist es eher marginal?
Dr. Baraki: Marginal ist es auf jeden Fall. Es reicht nicht aus, was die Bundesrepublik tut. Aber die Ansätze
und die Richtung sind schon richtig. Die Bundesrepublik hat in drei Bereichen Entwicklungsprojekte:
Frauenförderung, Erziehungswesen und Gesundheitswesen. Das sind drei Schwerpunkte, die eigentlich zu begrüßen
sind. Das reicht mir aber nicht aus. Ich habe "10 Thesen für eine nachhaltige Entwicklungspolitik in Afghanistan"
formuliert, die in der EPD veröffentlicht worden sind. Meiner Meinung nach sollte die Bundesrepublik vor allem
die Frauenförderung in ihren Projekten noch weiter auszubauen. Zum Beispiel sollten die zahlreichen mittellosen
Frauen und Witwen eine Berufsausbildung erhalten, damit sie sich und ihre Kinder ernähren können und sich nicht
prostituieren müssen.
Ein weiteres Anliegen wäre die Anwerbung von noch in der Bundesrepublik lebenden bzw. schon nach Afghanistan
zurückgekehrten Flüchtlingen, die in den von der BRD durchgeführten Projekten bevorzugt Beschäftigung finden
sollten. Ich bin davon überzeugt, dass dann mehr Afghanen zurückgehen würden. Das läge sicherlich in beiderseitigem
Interesse. Es gibt Afghanen, die hier viele Erfahrungen gesammelt haben, etwas gelernt haben, die deutsche Sprache
können. Wenn sie in einem deutschen Projekt in Afghanistan tätig sein könnten, wäre das für beide Seiten von
Vorteil.
Die Bundesrepublik hat aber noch einen anderen wichtigen Schwerpunkt gesetzt, den Aufbau, die Ausbildung und
Ausrüstung der Polizei. Das hat eine lange Tradition. Angefangen hatte das schon vor und nach dem Zweiten
Weltkrieg und dauerte bis 1978, und findet jetzt seine nahtlose Fortsetzung.
Frage: Wie ist ihr persönlicher Ausblick auf die Zukunft Afghanistans?
Dr. Baraki: Es fällt mir nicht leicht das so zu sagen, aber ich bin ziemlich pessimistisch. Und das aus den Gründen, die wir in unserem Gespräch erörtert haben. Die Realität ist, dass in Afghanistan fremde Mächte das Sagen haben. Die Afghanen selbst dagegen haben faktisch nichts zu entscheiden. Und diese fremden Mächte, allen voran die USA, wollen ihre eigenen Interessen in Afghanistan durchsetzen. Um Afghanistan und um die Afghanen, für deren Belange sich der Westen vorgeblich jahrzehntelang eingesetzt hat, geht es in der Tat nicht! Und das macht mich ziemlich pessimistisch.
Herr Dr. Baraki, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Das Interview führte Helge von Horn (AG Root Causes of Conflicts des AK "Süd-Nord")
Einige Ausgewählte Publikationen von Dr. Matin Baraki: