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http://www.rootcauses.de/publ/0310prae.htm

Prävention statt Intervention
Das IPPNW-Projekt: "Root Causes of Conflicts"

Immer häufiger und immer selbstverständlicher intervenieren Industrieländer militärisch in Konflikte und Krisen in der übrigen Welt. Hintergrund sind zum einen wachsende Begehrlichkeiten aus dem Zeitgeist eines neuen (Post)-Kolonialismus. Zum andern aber die - inzwischen auch bei Hilfs- und Friedensorganisationen immer verbreitetere - Vorstellung, daß zunehmende humanitäre Katastrophen im "Süden" Interventionen von außen letztlich zwingend erfordern. Das IPPNW-"Root-Causes-Projekt" soll die Hintergründe dieser Entwicklung aufklären und so Voraussetzungen für echte und nachhaltige Präventionsansätze schaffen.

Am 17.06. diesen Jahres richteten insgesamt 79 NGOs - darunter so renommierte wie Oxfam und Pax Christi International - einen Aufruf an die internationale Gemeinschaft, die NATO mit einem "robusten Mandat" zur Stabilisierung Afghanistans auszustatten. 1  Es folgte vereinzeltes Stirnrunzeln in der NGO Gemeinde. Ein Aufschrei aber, dass sich auch explizite Friedensorganisationen an dem Aufruf beteiligt hatten, blieb ebenso aus wie eine breite Diskussion dieses Vorgangs in der Friedensbewegung.
Es greift das "Sachzwang"-Denkmuster: Angesichts der unverändert schlechten Sicherheits- und Menschenrechtslage interessiert nur, wie sofort irgendetwas getan werden kann. Abgewunken wird, wer fragt, wie die heutige Situation entstanden ist - und darauf verweist, dass die NATO-Führungsmacht den Konflikt bereits vor Kriegsausbruch gezielt eskaliert sowie im Verlauf Islamisten und Taliban mit insgesamt 2 Mrd. US-$ und bis zu 65.000 Tonnen Waffen jährlich hochgerüstet hat. Thematisiert wurde immer nur die sowjetische Rolle. Dies ignorierte zudem den sozioökonomischen Nährboden des Konfliktes, den der afghanische Politologe Matin Baraki in seiner Analyse beleuchtet 2: Analphabetismus und krasse soziale Gegensätze, die der Kombination aus Supermachtinteressen und eingeschleusten High-Tech-Waffen zu einem verheerenden und fortdauernden Zerstörungseffekt verhalfen.
Das zugrunde liegende Problem ist freilich nicht spezifisch afghanisch. Interventionen werden immer populärer, Begriffsbildungen wie "humanitäre Intervention" und "Krieg gegen den Terror" fördern das nötige Sachzwanggef¨hl. Gleichzeitig sind in unserer immer reicher werdenden Welt heute 54 Staaten erheblich ärmer als vor 10 Jahren. Selbst in einem Land wie Polen, das ein mit Deutschland vergleichbares Wirtschaftswachstum aufweist, hat der Anteil der armen Bevölkerung von 6% auf 20% zugenommen.
Ein zentrales Element zur Begründung des Interventionismus-Konzepts ist der Begriff der sogenannten "Failing States".3 Diese Sprachregelung, die von Reaktionären (Bush)über Sozialdemokraten (Blair) bis zu Grünen (Fischer) weltweit zunehmend Anhänger findet, hat bislang nicht zu nennenswertem Nachdenken über eine auffallende Koinzidenz geführt: dass im Zuge der Globalisierung des westlich-marktwirtschaftlichen Gesellschaftsmodells immer mehr instabile "Versagerstaaten" entstehen (Somalia, Jugoslawien, Afghanistan, Kongo, Liberia...), die zu Brutstätten von Terrorismus werden oder sich in humanitären Tragödien selbst zerfleischen. Stattdessen läuft die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen isoliert von seinem Kontext: der Schuldenkatastrophe der '80er-Jahre, der IWF-"Strukturanpassungsprogramme" der '90er und ihrer immer desaströser ausfallenden Bilanz in den 2000ern. 4
Symptomatisch für diese Nicht-Wahrnehmung waren die Debatten im Bundestag vor seiner historischen Entscheidung vom 16.11.01 für die deutsche Beteiligung am "Krieg gegen den Terror" und beim nachfolgenden Grünen-Parteitag, der sie noch einmal bestätigte: Nicht nur normale Bürger wußten nichts Klares über Hintergründe und Zusammenhänge. Auch intellektuelle Galionsfiguren wie Ströbele hatten gegen die Kriegs- und Polizeiparolen von Bush bis Schily nichts wirklich Fundiertes vorzubringen.
Stimmen, die stattdessen eine "Weiterentwicklung" des Völkerrechts fordern, um dann mit "chirurgischen Mitteln"" gegen die weltweit sprießenden Herde des Chaos und Terrors vorgehen zu können, erhalten auch im NGO- und friedenspolitischen Lager zunehmend Gehör. Aufgrund eines Annan-Appells nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien berief die kanadische Regierung eine mit internationalen Experten besetzte Kommission namens ICISS (International Commission on Intervention and State Sovereignty). 5 Begründet mit Beispielen wie Ruanda und Jugoslawien sollte sie ein Konzept zur Revision des Völkerrechts erarbeiten. Geboren aus der Erfahrung zweier Weltkriege gehört zu dessen Kernpunkten die Unverletzlichkeit der nationalen Souveränität, die nur bei Gefährdung des Weltfriedens durch Weltsicherheitsrats-Beschluss ausgesetzt werden kann. Dies ist jeglichem Militärinterventionismus natürlich im Wege, auch humanitär begründetem. Das Ergebnis dieser Arbeit erschien 2001 (nach dem 11. September) unter dem wohlklingenden Titel "The Responsibility to Protect". 6
Auf dem IPPNW-Weltkongresses 2002 in Washington D.C. stellte die damalige IPPNW-Co-Präsidentin Prof. Mary-Wynne Ashford das ICISS-Konzept als zwar heiklen, insgesamt aber hoffnungsvollen Ansatz vor. Die dort geführte Diskussion - zu der als kritische Stimme der Autor dieses Artikels geladen worden war - widersprach jedoch dem ICISS-Ansatz. Sie berief sich dabei insbesondere auf die unter dem Titel "The Globalisation of Poverty" publizierte Analyse des kanadischen Ökonomen Prof. Michel Chossudovsky, 7 die die Entwicklung zahlreicher Dritte-Welt-Länder beleuchtet. Im Unterschied zum ICISS-Report, dessen Präventionskapitel allenfalls Alibi-Qualität hat, wird dort anhand einer Fülle meist offizieller Zahlen (UN, Weltbank...) dargestellt, wie die neoliberale Globalisierung die betroffenen Länder destabilisiert und so Konflikte, humanitäre Krisen und Gewalt hervorbringt und eskaliert. Insbesondere die ICISS-Schlüsselbeispiele Ruanda und Jugoslawien werden detailliert beleuchtet. Die resultierenden Erkenntnisse zeigen, dass die Biedermänner, die unter der Parole der "Verantwortung zu beschützen" nach der militärischen Feuerwehr rufen, mit ihrer IWF-, G8- und WTO-Politik gerade die Haupt-Brandstifter sind.
Der Mechanismus ist dabei immer wieder ähnlich: Zur Überwindung von Elend, Strukturdefiziten und Abhängigkeit, die der gerade erst abgeschüttelte Kolonialismus hinterlassen hatte, boten die vormaligen Kolonialmächte den jungen Staaten "Hilfe" in Form großzügiger Kredite an. Dies brachte dann neue und deletäre Abhängigkeit. Denn die Rückzahlung hatte in Devisen zu erfolgen, weswegen die betroffenen Länder immer mehr für den Weltmarkt statt für den eigenen Bedarf produzieren mussten. Und dort herrschte das Diktat der Industriemächte: Die Preise für Rohstoffe und Agrarprodukte verfielen, w&aum;hrend sie für Dünger, Maschinen, Fahrzeuge und Telekommunikation stiegen. Der erlittene Kolonialismus stimulierte zudem das Bedürfnis nach modernen Waffen. Die Betroffenen gerieten so immer tiefer in die Schuldenfalle - worauf ihnen die Gläubiger sogenannte "Strukturanpassungsprogramme" aufzwangen. Dies führte nicht nur zu weiterer Deformation ihrer Volkswirtschaften in Richtung Weltmarkt (Anbau von Luxusgütern wie Kaffee, Bananen und Tabak für den Norden statt von Nahrung für die eigene Bevölkerung). Sondern sie schrieben auch die Kappung und Privatisierung von Strukturen wie Bildung, Gesundheitswesen und anderer sozialer Dienste vor, was Attraktivität und Glaubwürdigkeit des Staates unterminierte. Niedergang und Unsicherheit jedoch nähren Ressentiments zwischen ethnischen und anderen Gruppen - geschürt u.U. noch durch äußere Mächte und Interessen. Und Perspektivlosigkeit gebiert Irrationalismus...
Natürlich gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. So wird der Kongokrieg durch Rohstoffinteressen angeheizt. In Afghanistan und Irak ging es außerdem um die Aneignung von strategischen Brückenköpfen. Dennoch wird die Legitimation auch solcher Kriege erheblich erleichtert, wenn man die Öffentlichkeit glauben macht, südliche Gesellschaften seien einfach nicht in der Lage, aus sich heraus Ordnung und Menschenrechte zu gewährleisten.
Dies ist der Hintergrund des IPPNW-Projekts "Root Causes of Conflicts in the Age of the Total Market"" (Grundursachen für Konflikte und Kriege im Zeitalter des totalen Marktes). Mit Unterstützung durch Helge von Horn als Koordinator werden Materialien und Daten zum Thema gesammelt und gesichtet, ebenso Namen von AutorInnen und weiteren ExpertInnen. Die Informationen werden aufbereitet und für Interessierte in gedruckter Form, als (Powerpoint-)Vortrag sowie aus dem Internet abrufbar gemacht. Dies soll wissenschaftlich begleitet werden: U.a. ist ein Workshop für Dezember an der Uni Kassel geplant, zusammen mit anderen interessierten NGOs. Gleichzeitig wird die Internationalisierung des Projekts durch Beteiligung weiterer IPPNW-Sektionen angestrebt (südlicher und östlicher wie Nicaragua, Kuba, Kenia, Rußland und Polen, aber auch nördlicher wie Kanada, USA und Großbritannien) - auch finanziell.
Überhaupt ist die Finanzierung weiterhin kritisch: Das bisherige Budget ist sehr knapp und zunächst nur bis Ende diesen Jahres vorhanden. Mit der Einwerbung externer Mittel wurde begonnen. Es fehlt aber schon jetzt Geld für Sachmittel (Material, Fahrtkosten, Kommunikation). Interessierte sind daher nicht nur zur Mitarbeit eingeladen, sondern auch zu finanzieller Unterstützung.
Die Ergebnisse sollen beim IPPNW-Weltkongress in Peking vorgestellt werden (16.-19.09.04). Der deutsche Vorstand hat bereits den Wunsch an das Vorbereitungskomitee übermittelt, Prof. Chossudovsky als Plenarredner einzuladen.

Christoph Krämer, AK "Süd-Nord"

Erschienen im IPPNW-Forum Nr. 83 - im Oktober 2003

  1. "Afghanistan: A Call for Security": http://www.rootcauses/texts/afghcall.htm      
  2. Baraki, M.: Die Talibanisierung Afghanistans (Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/01)      
  3. lt. Robert Cooper (internat. Politstratege und Labour-Berater) Versagerstaaten, in die man vorbeugend militärisch intervenieren muß.
    z. B. www.nwwp.de/deutsch/news_d/krieg_frieden/alfter.html      
  4. siehe http://www.saprin.org/global_rpt.htm oder z. B. die Analysen des ehem. Weltbank-Chefökonomen Joseph Stiglitz      
  5. Mitglieder waren u.a. Gareth Evans (ehem. australischer Außenminister und Co-Initiator der Canberra Commission, Klaus Naumann (ehem. Vorsitzender des NATO-Militärausschusses)und Cyril Ramaphosa (ehem. ANC-Generalsekretär)      
  6. "Die Verantwortung zu beschützen" (http://www.dfait-maeci.gc.ca/iciss-ciise/)      
  7. deutsch: "Global brutal" (Zweitausendeins 2002 - erhältlich auch bei der IPPNW-Geschäftsstelle für 12,75 €)